Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
äonenalte Weisheiten zuzuflüstern. Aber das war natürlich absurd. Stonehenge war kein lebender Organismus, keine bewusste, denkende Wesenheit, sondern nichts weiter als eine Ansammlung uralter, von Menschenhand behauener Steinklötze.
Er ließ die Hände wieder sinken, lauschte noch einen Moment lang dem Grollen der Echos und setzte sich dann langsam in Bewegung, in die Richtung, in der er seine Frau und seinen Sohn wusste. Als er nach ein paar Sekunden noch einmal aufblickte, war Allan von dem Steinbrocken verschwunden, auf dem er soeben noch gestanden hatte. Trotzdem machte sich Brian McDermott keine Sorgen, ihn und Marjorie etwa verfehlen zu können. So ausgedehnt war die Anlage auch wieder nicht, und außerdem wusste er ja auch genau, wo er sie finden würde: dort nämlich, wo sich die meisten der Besucher drängten - an der schwarzen Steinplatte, auf der man das verkohlte Skelett Betty Malloys gefunden hatte und die der Mittelpunkt von Barry Lambs barbarischen Riten gewesen sein sollte. So hatte es jedenfalls in den Zeitungen gestanden.
Bei einem seiner heidnischen Rituale sollte Barry Lamb sogar zu nächtlicher Stunde beobachtet worden sein - von einem Londoner Privatdetektiv, dessen Namen mit Raven angegeben wurde. Dieser Raven hatte angeblich für Betty Malloys Bruder Jeff Target, der Jahre zuvor nach Amerika ausgewandert war, gearbeitet und mit ihm zusammen überhaupt erst die wahren Hintergründe von Bettys Tod aufgedeckt und Barry Lamb als Mörder entlarvt, während die örtliche Polizei noch an einen Unfalltod durch Blitzschlag glaubte.
Alle diese Einzelheiten gingen Brian McDermott durch den Kopf, während er sich gemächlich dem Zentrum Stonehenges näherte, bedächtig im Rhythmus seiner träge dahinfließenden Gedanken einen Fuß vor den anderen setzend. Er bemerkte kaum, wie er hin und wieder von anderen Touristen überholt wurde, die es so viel eiliger hatten als er, endlich zum Ort des Verbrechens zu gelangen. Und wahrscheinlich war es gerade diese sensationslüsterne Eile, die sie daran hinderte, das merkwürdige Objekt wahrzunehmen, auf das Brian McDermotts Blick mit einem Mal fiel.
Als Brian es zum ersten Mal sah, runzelte er unwillkürlich die Stirn. Das Ding lag fast unmittelbar neben dem Hauptweg in einer nestähnlichen Vertiefung des Felsuntergrundes, halb von den Schatten des Monolithen verborgen, aber trotzdem für ein aufmerksames Auge immer noch deutlich genug sichtbar. Es war etwa so groß und so geformt wie eine Kiwi-Frucht, und im ersten Augenblick erinnerte es Brian auch genau daran - ein kleines, pelziges Ei, das anthrazitfarben schimmerte und so gar nicht in diese Umgebung zu passen schien.
Aber es war keine Kiwi-Frucht, denn Kiwi-Früchte pulsieren nicht, als schlage ein Herz in ihrem Innern ...
Bevor er wusste, wie ihm eigentlich geschah, hatte sich der junge Familienvater gebückt und die seltsame »Kiwi« behutsam aufgehoben. Hart und merkwürdig kühl ruhte sie nun in seinen zu einer Schale zusammengelegten Händen. Bei genauerer Betrachtung und vor allem bei vorsichtigem Betasten mit den Daumenkuppen stellte sich rasch heraus, dass das Ding doch nicht ganz so kiwiähnlich war, wie es auf den ersten Blick ausgesehen hatte. Besonders die pelzartigen Härchen, die das Ei bedeckten, waren völlig anders beschaffen. Sie fühlten sich kristallin an, beinahe wie Zuckerwatte, ohne dabei jedoch auch so klebrig zu sein. Ihre Berührung jagte Brian einen Schauder den Rücken hinunter.
Das Ei war so fremdartig, so - unirdisch, dass sich sein Magen zusammenkrampfte. Die ganze Zeit über verspürte er das Bedürfnis, das Ei mit einem Aufschrei fallen zu lassen oder es vielleicht sogar wegzuschleudern, hinein in die abgründigen Schatten zwischen den Monolithen von Stonehenge, denen es entsprungen zu sein schien. Aber irgendetwas hinderte ihn daran, diesen Impuls in die Tat umzusetzen. Nur - was?
Mit vor Grauen geweiteten Augen starrte Brian das Ei an. Es pulsierte ununterbrochen in einem langsamen hypnotischen Rhythmus, dehnte sich aus, zog sich zusammen, dehnte sich aus ... Eine tiefe, alles einhüllende Müdigkeit überkam den jungen Mann. Unwillkürlich begannen seine Augenlider zu flattern, herabzusinken. Wie angenehm es war, die Lider über die vom langen, unverwandten Starren brennenden Augäpfel zu senken! Wie angenehm, an gar nichts mehr denken, sich auf nichts mehr konzentrieren zu müssen!
Weshalb machte er sich eigentlich noch Sorgen? Es würde alles gut werden. Ein
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