Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
das Polizeiboot näher heran, während Lundgren beinahe unhörbare Anweisungen gab. Dann vernahm Raven plötzlich ein etwas lauteres Wort.
»Stopp!«
Zu diesem Zeitpunkt hatte sogar er längst erkannt, dass es sich bei dem Hindernis keineswegs um die Kaimauer der Anlegestelle von Godsby handelte, wie er zuerst vermutet hatte. Er spürte, dass sein Atem schneller ging, und auch Lundgren und Melissa merkte man ihre Aufregung an. Irgendwo scharrte ein Fuß über die Decksplanken. Parkastoff knisterte.
Das Hindernis war nichts anderes als die Wandung der MARONAR.
Wenn sich die Besatzung oder ein anderer Wachtposten an Bord befand, würden sie nie unbemerkt landen und sich bis zum Herrenhaus vorarbeiten können, das war Raven sofort klar.
Und Stig Lundgren selbstverständlich auch, denn der hatte ja viel mehr Erfahrung bei solchen Großoperationen als Raven.
Wegen des Nebels ahnte Raven mehr, als dass er sah, wie der Kommissar sich hochreckte und die Bordwand der MARONAR betastete. Seine Hände verschwanden wie abgeschnitten im Nebel. Der Anblick der sich hin und her bewegenden Armstümpfe war so beängstigend, dass Raven die Zähne fest zusammenbeißen musste, um nicht zu schreien. Seine Nerven waren nach den Erlebnissen der letzten Tage in einem verheerenden Zustand.
Nach einer Weile zog Stig Lundgren die Hände zurück und trat ganz dicht zu Raven. Der Detektiv sah, wie er wiederholt den Kopf schüttelte, als habe er etwas entdeckt, was ihn erheblich irritierte.
Lundgrens Worte bestätigten seine Vermutung.
»Mit der MARONAR ist etwas nicht in Ordnung«, sagte der Kommissar mit gedämpfter Stimme. »Sie scheint mir etwas schief zu liegen, und das Deck ist auch viel dichter über der Wasseroberfläche, als es eigentlich sein dürfte. Habe fast den Eindruck, sie hat irgendwo ein Leck. Wir können mit einem Sprung an Bord sein, sogar ohne Polizisten als Räuberleiter. Du kommst doch mit?«
Raven nickte nur stumm. Entgegen seiner Bitte hatte Lundgren die Leute der Einsatztruppe nicht darüber informiert, dass sie es nicht nur mit gewöhnlichen Verbrechern zu tun haben würden. Seine Begründung dafür hatte auch durchaus einsichtig geklungen, wenigstens in Ravens Ohren. Er wollte die Beamten nicht unnötig nervös und kopfscheu machen. Ob sie nun Bescheid wussten oder nicht - gestürmt werden musste die Syndikatsfestung auf Godsby so oder so. Und wenn das, was Raven erzählt hatte, wirklich stimmte, dann erst recht ...
Sie nahmen Anlauf und sprangen die in den Nebel aufragende Wand an.
Während des Sprunges über den schmalen Wasserstreifen, der das Polizeiboot von der MARONAR trennte, schossen Raven tausend von Gedanken durch den Kopf, die von der Angst vor dem Kommenden diktiert waren. Als sie mit einem dumpfen Doppelschlag gegen die Wandung prallten und sich ihre Hände um die Oberkante der Reling schlossen, war das alles wie weggewischt. Raven dachte an gar nichts mehr. Er handelte nur noch.
Ein Klimmzug, ein rasches Abrollen, und sie waren an Deck. In einer weiteren synchronen Bewegung fuhren zwei Hände zu den Schulterhalftern, rissen die Pistolen heraus und entsicherten sie. Mit gespreizten Beinen standen die beiden Männer da und versuchten, sich in ihrer neuen Umgebung zu orientieren - vergebens, denn auch hier war der Nebel nicht weniger dicht als unten auf dem Polizeiboot.
Raven spürte, wie eine Hand ihn anstieß. Mit kurzen, vorsichtigen Schritten setzte er sich in Bewegung, auf die Stelle zu, wo Lundgren und er den Aufgang zur Steuerkabine vermuteten. Wenn sich eine Wache an Bord befand, dann dort. Zwar war die Steuerkabine nicht beleuchtet, aber die Wache mochte durchaus den Befehl erhalten haben, die Lampen ausgeschaltet zu lassen, um kein deutlich sichtbares Ziel zu bieten.
Aber während sie auf den Aufgang zuliefen, spritzten ihnen keine Kugeln um die Ohren, und als sie ihn schließlich nach einigem Herumtasten erreichten, war sich Raven sicher, dass die Steuerkabine wirklich leer sein musste. Fast fühlte er sich daher erleichtert, als Lundgren ihn mit einem kurzen »Rauf!« nach oben schickte und selbst hinunter in die Mannschaftsräume verschwand.
Flink wie ein Affe enterte Raven die Leiter hinauf und stieß die Kabinentür auf. Mit vorgestreckter Pistole sprang er ins Innere.
Erleichtert ließ er den Atem aus der Lunge entweichen. Nichts. Keine lebende Seele in Sicht.
Kaum hatte er sie zu Ende gedacht, gefiel ihm die Metapher eine lebende Seele schon gar nicht mehr so gut. Bedrückt
Weitere Kostenlose Bücher