Raven - Schattenreiter (6 Romane)
bekommen, wie wenig den Schattenreitern ein Menschenleben galt.
Dabei war er sich darüber im Klaren, dass er höchstens ein paar Tage gewinnen konnte. Die Monster waren um die halbe Welt herbeigeeilt, um ihn zu finden. Sie würden ihn auch in London aufstöbern. Aber dort kämpfte er wenigstens auf eigenem Boden. Und dort hatte er Freunde. Außerdem konnte er dafür sorgen, dass Janice außer Gefahr war. Sie hatte zwar noch keine Ahnung von ihrem Glück - aber er würde sie wegschicken, sowie die Fähre an der englischen Küste angelegt hatte. Irgendwohin, möglichst weit weg von London - und von ihm.
Er stand auf, stampfte ein paarmal mit den Füßen, um das taube Gefühl daraus zu vertreiben, und legte den Kopf in den Nacken. Graue, schwere Regenwolken trieben vom Meer her über die Insel. Es sah aus, als wäre der Himmel heruntergesackt.
»Kein sonderlich schöner Abschied«, sagte Janice neben ihm.
»Auf diese Weise fällt er dir vielleicht nicht ganz so schwer«, antwortete Raven. »Außerdem kann das Wetter in London ganz anders sein. Vielleicht tobt sich das Unwetter hier aus.«
»Das wird es bestimmt«, nickte Janice. »Spätestens, wenn der Mann von der Autovermietung sein Büro aufschließt und feststellt, dass du den Wagen nicht zurückgebracht hast. Du kannst Arger bekommen.«
»Ich habe ihm einen Brief hinterlassen«, antwortete Raven. »Und ein paar Pfund extra. Vielleicht geschieht ein Wunder, und er schickt dir deine Handtasche nach.«
Janice verzog die Lippen. »Du glaubst wirklich an das Gute im Menschen, wie?«, fragte sie.
Raven zuckte wortlos mit den Schultern. Sie hatten den Wagen am vergangenen Abend nicht wiedergefunden. Und sie hatten keine Zeit mehr gehabt, am nächsten Morgen danach zu suchen. Die Fähre, die vor ihnen im Hafenbecken lag, würde in einer knappen halben Stunde ablegen, und das nächste Schiff fuhr erst am Abend. Das Risiko, noch einen ganzen Tag auf der Insel verbringen zu müssen, war ihm zu groß gewesen.
Selbst jetzt ertappte er sich immer wieder dabei, wie er sich umdrehte und misstrauisch seine Umgebung musterte. Trotz der frühen Stunden herrschte hier am Hafen bereits reger Verkehr. Menschen hasteten vorüber, Lastwagen brachten Fracht zum Kai und standen wartend vor den noch geschlossenen Lagerhallen, und dicht neben Raven und Janice lümmelte ein verschlafen dreinblickender Mann neben einem ganzen Berg von Gepäck. Offensichtlich wartete er ebenfalls darauf, auf die Fähre zu gehen.
Nein, sie waren sicher. Hier jedenfalls. Die Schattenreiter scheuten die Öffentlichkeit. Obwohl niemand sie gegen ihren Willen sehen würde, zogen sie es vor, ihre Opfer in aller Stille zu erledigen. Jedenfalls hoffte er das.
Das Brummen eines Automotors durchbrach die Geräusche des Hafens. Raven blinzelte neugierig zur Straße hinüber. Der Wagen war nicht zu sehen, aber dem Lärm nach zu urteilen, musste der Fahrer rasen, als wäre der Teufel hinter ihm her.
Janice grinste. »Da hat es jemand offensichtlich noch eiliger als du, die Insel zu verlassen.«
Der Polizeiwagen bog mit quietschenden Reifen und eingeschaltetem Rotlicht um die Kurve, schlitterte ein Stück über das regenfeuchte Kopfsteinpflaster und kam schließlich mit einem harten Ruck zum Stehen. Die beiden hinteren Türen flogen in einer synchronen Bewegung auf, und zwei uniformierte Polizisten stiegen aus dem Fahrzeug. Ein dritter, zivil gekleideter Mann folgte ihnen wenige Sekunden später.
Janice runzelte verblüfft die Stirn. »Sag mal, bist du sicher, dass du unsere Zimmer bezahlt hast?«, fragte sie halblaut.
»Dir wird das Witzemachen gleich vergehen«, antwortete Raven. »Ich glaube, die Herrschaften sind wirklich auf der Suche nach uns.«
Er täuschte sich nicht. Einer der uniformierten Polizisten schlenderte wie zufällig nach rechts und blockierte den einzigen möglichen Fluchtweg vom Kai, während die beiden anderen mit raschen Bewegungen zu ihnen herüberkamen.
»Mr. Raven?«
Raven nickte. »Ja. Sie - suchen mich?«
»Jetzt nicht mehr«, antwortete der Zivilbeamte trocken. »Aber wir hätten ein paar Fragen an Sie. An Sie und Miss ...«
»Land«, half Janice aus. »Janice Land. Und Sie?« Sie lächelte unschuldig. »Ich hatte Ihren Namen nicht genau verstanden.«
»Vielleicht, weil ich ihn nicht genannt habe«, antwortete der Inspektor. »Aber ich will nicht unhöflicher sein als nötig. Mein Name ist Belders. Inspektor Belders, um genau zu sein.« Er zog die Schultern hoch, schüttelte
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