Raven - Schattenreiter (6 Romane)
sicher.«
»Einen Zusammenhang womit?«, schnappte Gifford.
»Zwischen dem, was vergangene Nacht geschehen ist, und den Vorfällen in der U-Bahn«, antwortete Card. »Es ist sicher kein Zufall, dass all diese Menschen gleichzeitig ihr Gedächtnis zu verlieren scheinen und dann, wieder gleichzeitig, vierzehn Tage später verschwinden.«
»Dann verstehe ich nicht, warum Sie noch hier herumstehen und reden, Inspektor!«, fuhr Gifford auf. »Suchen Sie meine Tochter!«
Card war durch den plötzlichen Stimmungswechsel Giffords sichtlich verwirrt. Aber er hatte sich rasch wieder in der Gewalt. Es war nicht das erste Mal, dass er als Prellbock herhalten musste. Gifford hatte Angst um seine Tochter, mehr Angst, als er bisher gezeigt hatte.
»Das werden wir tun, Sir Anthony«, sagte er beherrscht. »Sowie wir eine konkrete Spur haben.«
»Aber die haben Sie!«, ereiferte sich Gifford. »Gehen Sie dorthinunter. Suchen Sie die Schächte ab. Ich bin sicher, dass ...«
»Ich auch«, unterbrach ihn Card sanft. »Aber Sie wissen so gut wie ich, wie es dort unten aussieht, Sir Anthony. Wir würden hundert Kompanien Soldaten und fünf Jahre brauchen, wenn wir jeden einzelnen dieser stillgelegten Tunnel absuchen wollten, und selbst dann wären wir noch nicht fertig. Raven und ich werden alles in unserer Macht Stehende tun, um Ihre Tochter zu finden, Sir Anthony, aber zielloses Herumsuchen nutzt weder uns noch ihr. Wir brauchen einen konkreten Anhaltspunkt, irgendeine Spur. Alles andere wäre Zeitverschwendung.« Er schwieg einen Moment, rammte die Hände in die Manteltaschen und deutete mit einer Kopfbewegung auf das Haus. »Gehen wir hinein«, sagte er. »Ich werde mir noch einmal Hillarys Zimmer ansehen. Vielleicht finden wir irgendetwas.«
»Ihre Beamten haben es bereits untersucht«, murrte Gifford. Trotzdem wandte er sich gehorsam um und ging vor Card und Raven die kiesbestreute Auffahrt zum Haus hinauf.
Der Park und die säulenüberdachte Veranda des Hauses wimmelten von Polizeibeamten. Vor dem weitläufigen, in spätviktorianischem Stil erbauten Herrenhaus waren an die zwei Dutzend Streifenwagen abgestellt, und eine halbe Hundertschaft uniformierter Beamten schien damit beschäftigt zu sein, jeden Quadratzentimeter des kurz geschnittenen englischen Rasens auf das Peinlichste abzusuchen.
Raven runzelte missbilligend die Stirn, als er das Aufgebot bemerkte.
»Erstaunlich«, murmelte er.
Card wandte mit einem fragenden Blick den Kopf. »Was meinen Sie damit, Raven?«
Raven zuckte die Achseln. »Nichts Bestimmtes. Ich musste nur gerade daran denken, dass angeblich vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind.«
»Und?«
»Glauben Sie, man würde ein solches Aufhebens machen, wenn die Tochter einer Sozialhilfeempfängerin aus Chinatown verschwunden wäre?«, fragte er.
Für einen Moment huschte ein Schatten von Zorn über Cards Gesicht. »Das ist nicht gerade der passende Moment für solche Überlegungen«, sagte er. »Und ich habe auch gar keine Lust, mich mit Ihnen darüber zu unterhalten. Jedenfalls jetzt nicht.«
Raven setzte zu einer Antwort an, beließ es aber dann bei einem Achselzucken und beeilte sich, Sir Anthony einzuholen, der mittlerweile ein gutes Stück vorausgeeilt war und ungeduldig unter der Eingangstür auf sie wartete.
Das Haus wimmelte ebenso von Polizisten wie der Garten. Ein junger Mann mit den Streifen eines Sergeanten am Ärmel kam auf Card zu und winkte aufgeregt mit irgendwelchen Papieren, zog sich aber rasch und ohne sein Anliegen vorgetragen zu haben wieder zurück, als er den finsteren Gesichtsausdruck des Inspektors bemerkte.
»Hillarys Zimmer ist dort oben«, sagte Card mit einer knappen Geste auf die überbreite Treppe, die von der Empfangshalle hinauf ins erste Stockwerk führte.
»Brauchen Sie mich noch?«, fragte Gifford. »Ich meine, im Augenblick. Ich würde mich gerne um meine Frau kümmern. Sie ist ziemlich mitgenommen von allem, wissen Sie?«
Card schüttelte den Kopf. »Gehen Sie ruhig. Raven und ich kommen schon allein zurecht. Wir lassen Sie rufen, wenn wir noch irgendwelche Fragen haben.«
Gifford nickte dankbar und eilte davon. Card sah ihm schweigend nach, bis er aus der Halle verschwunden war.
»Vielleicht«, sagte er, als er neben Raven die breite Freitreppe hinaufging, »erzählen Sie diesem Mann selbst, dass Sie es für unangemessen halten, mit welchem Aufwand wir versuchen, ihm zu helfen.«
Raven verzichtete vorsichtshalber darauf, zu antworten.
Vor der Tür zu
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