Raven - Schattenreiter (6 Romane)
Hillarys Zimmer hielt ein Polizeibeamter Wache. Card scheuchte ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung zur Seite, kramte einen Schlüssel aus der Tasche und sperrte die Tür auf.
Raven sog unwillkürlich die Luft ein, als sie den Raum betraten. Es war unverkennbar ein Jungmädchenzimmer, an den Wänden Dutzende von Postern und aus Zeitschriften herausgeschnittene Bilder von Pop- und Filmstars - aber es sah aus, als wären Attilas Hunnen in vollem Galopp hindurchgezogen. Mindestens dreimal.
»Ich dachte, es gäbe hier keine Spuren?«, murmelte Raven.
Card zog eine Grimasse, drückte die Tür hinter sich ins Schloss und zuckte mit den Achseln. »Die gab es auch nicht«, gestand er. »Was Sie hier sehen, ist die Arbeit unserer Spurensicherung. Die Jungs waren gründlich.«
»Das kann man nicht bestreiten«, bestätigte Raven. Er schüttelte mit dem Kopf, sah Card vorwurfsvoll an und versuchte, sich durch das Zimmer zu bewegen, ohne auf ein herausgerissenes Kleidungsstück, den Inhalt einer Schublade oder einen der anderen Gegenstände zu treten, die den Fußboden in chaotischer Unordnung bedeckten. »Habt ihr neuerdings eine spezielle Verwüstungsabteilung?«, fragte er grinsend.
Card überging die Bemerkung. »Kommen Sie her, Raven«, sagte er. »Ein wenig von der Tür weg. Ich möchte nicht, dass irgendjemand hört, was ich Ihnen zu sagen habe.«
Raven runzelte verwundert die Stirn, gehorchte aber. Card war im Augenblick bestimmt nicht in der Stimmung, Scherze mit ihm zu treiben.
»Ich habe vorhin am Tor nicht die Wahrheit gesagt«, begann der Inspektor. »Das hier ist nicht die einzige Spur. Aber ich wollte Sir Anthony nicht unnötig aufregen. Er hat schon genug Sorgen. Die Sache ist ernster, als er ahnt.«
»Was ist passiert?«, fragte Raven.
Card zögerte einen Moment. »Wir haben Ihnen gestern Nacht von Coco erzählt«, erinnerte er.
»Hillarys Freund.«
Card nickte. »Wir haben ihn beobachtet, seit er das Krankenhaus und das Untersuchungsgefängnis verlassen hat. Es liegt uns nichts daran, irgendeinen kleinen Dealer hinter Gitter zu bringen, das wissen Sie ja. Ich hatte die stille Hoffnung, dass uns Coco zu seinen Hintermännern führt.«
»Hat er es getan?«
Card winkte ungeduldig ab. »Ja. Aber das spielt hier keine Rolle. Er war jedenfalls nicht eine einzige Sekunde ohne Bewachung. Und er war dumm genug, geradewegs zu Gelders zu gehen, um ...«
»Gelders?«, unterbrach ihn Raven. »Haben Sie jetzt Gelders gesagt?«
Card nickte ungeduldig. »Ja. Sie kennen Gelders?«
»Flüchtig«, antwortete Raven ausweichend. »Nur sehr flüchtig.«
»Das hoffe ich auch«, knurrte Card. »Ich möchte Sie ungern zusammen mit ihm verhaften. Dieser Gelders ist einer der großen Bosse im Rauschgiftgeschäft. Aber wir konnten ihm bisher nichts nachweisen. Was haben Sie mit ihm zu tun?«
Raven lächelte gequält. »Nichts«, sagte er hastig. »Eher er mit mir. Oder seine Schläger, genauer gesagt.«
»Das waren Gelders' Leute, die Sie so zugerichtet haben?«
Raven nickte wortlos.
Card bedachte ihn mit einem langen, nachdenklichen Blick und schüttelte den Kopf. »Ich frage lieber nicht, wie es dazu gekommen ist«, seufzte er. »Seien Sie froh, dass Sie noch leben. Aber zurück zu Coco. Er war wirklich so bescheuert, gleich zu seinem Boss zu laufen. Natürlich ließ ihn Gelders nicht einmal an sich heran, aber ein paar seiner Gorillas schnappten sich Coco und verfrachteten ihn in ein leer stehendes Mietshaus am Hafen. Dort blieb er bis gestern Nacht. Der Beamte, der vor dem Haus postiert war, sah ihn weggehen - in Begleitung eines Unbekannten, und ...«
»Und er ist ihm nicht gefolgt?«
Card lachte humorlos. »Das ging nicht, Raven. Die beiden verließen das Haus und verschwanden schnurstracks im nächsten Kanalisationsschacht. Aber dafür fanden wir etwas anderes.« Er griff in die Innentasche seines abgewetzten Trenchcoats und förderte einen Packen Polaroidfotos zutage, die er Raven wortlos in die Hand drückte.
Es fiel Raven schwer, sich beim Anblick der Bilder zu beherrschen. Das erste Foto zeigte einen Mann, einen toten Mann, genauer gesagt. Er lag in seltsam verrenkter Haltung zwischen umgestürzten Möbelstücken, der Teppich unter ihm war dunkel von eingetrocknetem Blut.
»Einer von Gelders' Killern«, erklärte Card. »Ein verdammt guter Mann - in seinem Gewerbe.«
Auf dem zweiten Bild war derselbe Mann zu erkennen, nur hatte man ihm hier die Jacke ausgezogen und das Hemd aufgeknöpft, sodass der
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