Raven - Schattenreiter (6 Romane)
nicht von oben die Sperre entriegelt worden war. Oder man den entsprechenden Schlüssel besaß.
Card presste den Finger auf den Klingelknopf und ließ ihn drauf. »Wollen doch mal sehen, wer die besseren Nerven hat«, murrte er.
»Vielleicht ist er gar nicht da?«, warf Smithers ein.
Card schüttelte den Kopf. »Er ist da. Candley wird seit heute Morgen beobachtet. Er hat das Haus nicht verlassen. Weder über die Treppen, noch mit den Aufzügen. Er ist da.«
Wie auf ein Stichwort hin knackte es in diesem Moment hinter dem Lautsprechergitter der Rufanlage.
»Ja?«
»Card«, knurrte der Polizist. »Inspektor Card von Scotland Yard. Ich müsste Sie noch einmal kurz sprechen, Mr. Candley.«
»Um diese Zeit?«, fragte Candley ungehalten.
»Um diese Zeit.«
Für Sekunden herrschte Schweigen. Offensichtlich überlegte Candley, ob er den ungebetenen Besucher noch empfangen sollte. »Na gut«, sagte er schließlich. »Kommen Sie rauf! Aber ich wäre Ihnen äußerst verbunden, wenn Sie wenigstens den Finger von der Klingel nehmen würden.«
Card zuckte zusammen, zog die Hand zurück und starrte einen Herzschlag lang schuldbewusst auf den Klingelknopf. Die Türhälften glitten wieder zu, und ein heller Glockenton zeigte an, dass der Aufzug weiterfuhr.
»Sie hätten sich wirklich einen besseren Moment aussuchen können«, sagte Candley ungehalten, als sie oben waren. »Wissen Sie überhaupt, wie spät es ist?«
Card nickte ungerührt. »Ziemlich spät, ich weiß. Eigentlich habe ich auch schon längst Feierabend.«
»Dann sollten Sie nach Hause fahren und ihn genießen«, schlug Candley vor.
»Ich täte nichts lieber als das«, konterte Card, dem es schwerfiel, sich zu beherrschen. »Aber ich habe einen Mord aufzuklären, und wenn das mit gewissen Unannehmlichkeiten für Sie verbunden ist, kann ich es nicht ändern.«
»Also?«, fragte Candley ungehalten. »Was wollen Sie?«
»Nur ein paar Fragen.« Card schob sich an Candley vorbei und sah sich ungeniert in der Wohnung um. »Sie sind nicht allein?«
»Nein. Ich habe Besuch. Damenbesuch, wenn Sie es genau wissen wollen. Ist das vielleicht neuerdings verboten?«
»Keineswegs. Ich frage aus reiner Neugier.« Card grinste. »Ich bin krankhaft neugierig, wissen Sie? Gehört zu meinem Beruf.«
Candley war mit ein paar schnellen Schritten an ihm vorbei und warf die Verbindungstür zum Wohnzimmer zu. »Vielleicht kommen Sie jetzt endlich zur Sache?«
»Gern. Es geht um die Reise, die Sie zusammen mit Ihrem Cousin vor zwei Jahren unternommen haben.«
Für den Bruchteil einer Sekunde huschte so etwas wie Erschrecken über Candleys Gesicht, aber er hatte sich sofort wieder in der Gewalt. »Was ist damit?«, fragte er ruhig.
»Nun ...« Card verschränkte die Arme hinter dem Rücken und begann auf den Zehenspitzen zu wippen. Es sah albern aus. »Ich habe gewisse Erkundigungen eingezogen, Mr. Candley.«
Candleys Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Ach?«
Card nickte ungerührt. »Sie waren vor dieser Reise ein nicht besonders erfolgreicher Versicherungsvertreter. Und Ihr Cousin war ein armer Student, der die letzten zehn Tage im Monat hungerte und in einem Loch hauste, weil er sich die Miete für eine anständige Wohnung nicht leisten konnte. Jetzt sind Sie Millionär, und in zwei oder drei Jahren werden Sie, wenn Ihre Karriere so weitergeht, Direktor Ihrer Gesellschaft sein.«
Candley verzog spöttisch den Mund. »Und? Ist das verboten? Ich zahle meine Steuern pünktlich, wenn es Sie interessiert. Und ich kenne kein Gesetz, das einem Mann verbietet, erfolgreich in seinem Beruf zu sein.«
»So ein Gesetz gibt es auch nicht«, antwortete Card ruhig. »Ich finde diesen Zufall nur etwas sonderbar. Sie und Ihr Cousin zogen als arme Schlucker los. Drei Monate später kommen Sie mit einem First-Class-Flug zurück. Sie haben plötzlich Erfolg im Beruf, ziehen Geld an wie ein Magnet Nägel ...«
»Glück«, fiel ihm Candley ins Wort. Er schien einen Teil seiner Selbstsicherheit eingebüßt zu haben, aber er gab sich redlich Mühe, das zu überspielen. »Ist das neuerdings auch verboten?«
Card ging nicht weiter darauf ein. »Es wundert mich nur, dass Ihr Cousin ausgerechnet zum gleichen Zeitpunkt eine ähnliche Glückssträhne hatte. Er schloss sein Studium mit summa cum laude ab, verdiente innerhalb von sechs Monaten ein Vermögen und lebte seither von den Zinsen. Wissen Sie, dass er fast vier Millionen Pfund Sterling auf der Bank hatte?«
»Mehr nicht?«,
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