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Ravinia

Titel: Ravinia
Autoren: Thilo Corzilius
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war. Nein. Heute schien er zitronengelb. Giftgelb. Und er tauchte die Stadt in ein bedrohliches Licht, machte aus ihr ein Monster, das Schicksale wie das von Lara gebar.
    Â»Schicksal«, sagte eine Stimme im richtigen Moment. Sie kam aus dem Nichts, genau wie die Hand, die sich auf Laras Schulter legte.
    Sie schrak zusammen, beruhigte sich aber wieder, als sie sah, wem diese Hand gehörte.
    Ein blasses, ernstes Gesicht mit Dreitagebart und zerzaustem, schwarzem Haar blickte in das ihre. Tom Truska.
    Â»Ich weiß, wie du dich fühlst«, sagte er nur. »Ich weiß, wie es ist, wenn das Kartenhaus, in dem die Seele ein junges Leben lang gewohnt hat, vom Wind davongetragen wird. Ich weiß, wie es ist, wenn andere Leute Dinge über einen wissen und den Geheimniskrämer spielen. Ich weiß, ich weiß, ich weiß.«
    Lara sagte nichts, Tom sah zu Boden.
    Â»Ich …«, begann er. »Ich bin kein guter Redner. Aber ich dachte, ein paar Worte bin ich dir schuldig.«
    Er sah auf und blickte sie ernst an.
    Â»Reden. Wirkliches Reden. Ich habe das viel zu lange nicht getan«, murmelte er. Es hörte sich an wie ein Geständnis vor sich selbst.
    Â»Aber wenn du wirklich einmal meinst, dich in all dem, was vor dir liegt, zu verlieren«, fuhr er fort, »dann biete ich dir an, dir zuzuhören.«
    Er ließ ihre Schulter los.
    Â»Ich habe das schon lange – viel zu lange vielleicht – niemandem mehr angeboten, aber ich denke, es ist Zeit und ich bin es dir schuldig. Wegen vorhin.«
    Lara sagte nichts.
    Tom auch nicht. Er drückte nur kurz mit der einen Hand ihre Schulter, dann drehte er sich um und schritt davon.
    Nach ein paar Metern drehte er sich noch einmal kurz um und rief: »Solltest du diese Hilfe einmal wirklich dringend brauchen, ich wohne im Torhaus der Burg von Ravinia.«
    Dann schlug er den Kragen hoch und verschwand. Er huschte die Brücke entlang, steuerte auf den nächsten Hauseingang zu, fummelte ein wenig an seinem großen Schlüsselbund herum und schloss auf.
    Dahinter konnte Lara auf die Entfernung hin eine kleine, alte Gasse erkennen, beschienen von einem gelben Mond. Ein düstergoldener Mond. Nicht giftgelb. Dort verschwand Tom mit wehendem Mantel. Besonnen, düster, schlagfertig und blass.
    Und auf einmal, ganz plötzlich, wusste Lara, dass sie nicht allein war.
    Nicht so unendlich allein, wie es den Anschein hatte. Da war noch jemand, dem die Welt Grund gegeben hatte, sich verraten zu fühlen. Und dieser jemand ertrug es. Vielleicht schon seit fünfzehn oder zwanzig Jahren. Und plötzlich verstand Lara McLane zumindest teilweise, wie man besonnen, düster, schlagfertig und blass wurde.
    Die Farbe des Mondes schlug um. Er wurde heller.
    Vielleicht, weil er nun höher am Himmel stand und die Atmosphäre ihn nicht mehr gelb und riesig erscheinen ließ. Vielleicht auch, weil das Fleckchen Welt, das er beschien, nun keine giftgelbe Farbe mehr brauchte. Zumindest vorläufig nicht. Wer wusste das schon?
    Lara hingegen ging nach Hause. Besonnen und düster, blass – vielleicht auch etwas schlagfertiger. Aber nicht verloren.

3. Kapitel, in dem der Begriff düstergolden zum Leben erwacht.
    Denkst du nicht auch, die Welt – und ich meine
    natürlich die Eine – dreht sich längst von alleine
    Denkst du nicht auch, wenn wir verschwänden
    dass sich genug andere zum Drehen fänden
    Â  Judith Holofernes
    Die Zeit gehört bisweilen nicht zu den besten Freunden der Menschen. Besonders, wenn es zu wenig von ihr gibt, um wichtige Dinge zu tun. Schlafen zum Beispiel.
    Nun war neun Uhr nicht unbedingt eine unmenschliche Zeit. Immerhin saß Lara werktags zu diesem Zeitpunkt in den kalten Klassenzimmern der Boroughmuir High School. Doch samstags war neun Uhr unerträglich für eine sechzehnjährige junge Frau. Vor allem, wenn sie die halbe Nacht wach gelegen und nachgedacht hatte.
    Gedacht, gedacht, gedacht.
    Sicher gab es ein Gesetz, das Teenagern verbot, am Wochenende früh aufzustehen. Und wenn nicht, dann sollte es dringend eingeführt werden. Denn hatten Teenager nicht die Pflicht, lange zu schlafen? Die schlaflosen Nächte des Älterwerdens würden doch ohnehin kommen und das – wenn man den Leuten jenen Alters Glauben schenkte – schneller, als jeder Sechzehnjährigen lieb sein konnte.
    Lara schnaubte die klirrend kalte Januarluft aus und wunderte
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