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Ravinia

Titel: Ravinia
Autoren: Thilo Corzilius
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Zeichner, Bilderkünstler. Nenn sie, wie du willst«, sagte er schließlich.
    Er hob den Blick, sah Lara in die Augen.
    Â»Du musst nämlich wissen, dass es nicht nur die Mechaniker sind, die aus Zahnrädern, Drähten und Schrauben wunderbare Schlüssel, Uhren und Ähnliches bauen können.«
    Seine Augen bekamen wieder diesen verschwörerischen Glanz, der ihr schon letzte Woche im Starbucks aufgelauert hatte.
    Â»Es gibt noch die anderen Zünfte, in denen Dinge erschaffen werden, die anders sind. Die Maler stellen ebenfalls eine Zunft, so wie wir Mechaniker.«
    Er seufzte.
    Â»Marcion de Huhl ist ein Vagant. Oder besser gesagt der König der Vaganten. Vaganten sind – auch das ist schwer zu erklären.«
    Er machte wieder eine kurze Pause.
    Â»Und warum Tom still, manchmal etwas griesgrämig, aber brillant ist, nun, das ist etwas, was ich dir sagen könnte, aber niemals sagen werde. Denn solche Dinge preiszugeben, steht mir nicht zu.«
    Stille.
    Totenstille.
    Â»Und jetzt Lara, geh! Geh nach Hause, genieße den Freitagabend! Wir treffen uns morgen früh um neun. Und dann – das verspreche ich dir – bekommst du ein paar Antworten.«
    Lara nickte ihm zu. Enttäuscht. Langsam löste sie ihre Schuhsohlen vom Boden und bewegte sich in Richtung Tür, als Baltasar sie ein letztes Mal aufhielt.
    Â»Lara«, sagte er, und es lag etwas in seiner Stimme, das den Balanceakt zwischen Fürsorge, Trauer und Zuversicht versuchte.
    Â»Lara. Es gibt Dinge im Leben – viele Dinge –, die muss man selbst herausfinden. Denn es bringt nur Zweifel und Verdruss mit sich, wenn ein anderer sie einem abnehmen will. Bitte Lara, geh nicht so hart mit mir oder deinem Großvater ins Gericht, wenn wir von Zeit zu Zeit nicht alles preisgeben, was wir wissen. Irgendwann – und ich weiß, dass du diese Worte in deinem Alter so satt hast, dass sie dir beinahe aus den Ohren wieder herausquellen –, irgendwann, wenn du alt genug bist, wirst du alles erfahren, und du wirst alles wissen.
    Und jetzt hab eine gute Nacht!«
    Und Lara ging.
    Wortlos.
    Nicht nach Hause. Nein, nach Hause konnte sie jetzt nicht. Nicht direkt. Stattdessen ging sie durch die Straßen und Gassen Edinburghs und über viele, viele Treppen. Stufe um Stufe, hinauf und hinab. Durch eine Stadt, die keine große Metropole war und dennoch niemals schlafen konnte.
    Und so sehr das bunte Treiben der jungen und alten Menschen und das der wenigen Touristen im Januar, die allesamt ihr wohlverdientes Wochenende begossen, die Straßen der Stadt mit Leben füllte, so sehr ging ebendies an Lara vorbei.
    Sie versank in Gedanken und hörte für den Rest der Welt auf zu existieren. Ein einsames, gedankenverlorenes Mädchen, das sich nicht der Ausgelassenheit des Freitagabends hingab, existierte in den Köpfen der Menschen nicht. Und was die Menschen nicht glauben wollen, das sehen sie auch nicht.
    So huschte sie mit schnellen Schritten über die Brücken am Park auf die Princes Street, ging in Schlangenlinien um Castle und Royal Mile und stand schließlich vor der Waverley Station und auf der gleichnamigen Brücke über den Gleisen.
    Mit hochgeschlagenem Kragen starrte sie zwischen Schal und Mütze – unter der keine Locke hervorlugte – auf die Gleise und die Güterwaggons.
    Sie war allein.
    Nicht dass sie sich nicht an irgendwen hätte wenden können. Sie konnte jederzeit nach Hause. Auch Mary oder Stew oder Marten aus der Schule beziehungsweise der Bücherei anzurufen, wäre kein Problem gewesen.
    Doch ihre Seele war allein, und es gab niemanden, der sie verstehen konnte. Niemand auf dieser riesigen Welt konnte Lara McLane verstehen. Und wenn man ihr auch noch so lange zuhören würde.
    Sie war allein.
    Allein, allein, allein.
    Sie wollte schreien, doch sie wusste, dass sie dies in ihrem Innern bereits tat.
    Wieso wussten alle etwas über ihre Eltern? Über Layla und Arthur McLane? Nur sie nicht? Wieso besaß sie offenbar Fähigkeiten, über die nur andere Bescheid wussten? Warum erzählte ihr niemand irgendetwas? Warum bloß?
    Eine Träne wurde vom scharfen, kalten Wind an ihrer Wange entlanggeschoben. Beschienen von einem großen, gelben Mond. Doch heute war er nicht ockerfarben. Nicht golden und beruhigend, wie er in manchen Nächten durch das Fenster schien, auf die Decke, unter der man sicher geborgen
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