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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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in Lara breit, spiegelte sich aber nicht einfach nur auf ihrem Gesicht wider, sondern grub sich tief in die Ritzen und Spalten ihres Geistes ein. Sie musste schlucken.
    Lord Hester winkte Lee heran, der Lara einfach an der Hand mit sich zog. Wortlos übergab der Lord ihnen jeweils einen Raben. Dem einen fehlte ein Fuß, der andere blutete am Flügel, aber beide waren sie am Leben. Lee zog ein Halstuch aus einer Tasche seiner Lederjacke und verband vorsichtig den blutenden Flügel, während der Rabe ganz still hielt.
    Schließlich gab er ihn in Laras Arme. Der Rabe legte den Kopf schief und hob sein mattes Gesicht, als er leise krächzte: »Junge Miss McLane. Schön, Sie zu sehen.«
    Lara konnte es kaum glauben.
    Â»Dexter?«, fragte sie ungläubig.
    Und der Rabe nickte müde und machte leise »Krah«, während Laras Augen zu glänzen begannen.
    Lee nahm den angeschlagenen Vogel auf den Arm, als Lord Hester schließlich von seinem Rundgang über den Hof zurückkehrte.
    Â»Noch weitere Verletzte?«, fragte Lee leise. Lara fand, es klang wie nach einer Schlacht in einem schlechten Kriegsfilm. Aber war es nicht schließlich auch eine Schlacht gewesen?
    Lord Hester schüttelte nur kurz und bedauernd den Kopf und warf einen raschen Blick auf den von Francesco gestützten Henry McLane.
    Â»Können Sie laufen?«, wollte er wissen.
    Â»Ich kann ihn tragen«, sagte Francesco nur und hob Laras Großvater auf die Arme wie ein kleines Kind.
    Â»Das sieht sicher entwürdigend aus«, stellte dieser hustend fest.
    Francesco zuckte mit den Achseln.
    Â»Ich kann Sie auch nur stützen, wenn Sie wollen?«
    Da war es. Ein kleines, aber feines Lächeln, das über die Gesichter aller Anwesenden huschte. Dann verließen sie den Hof und bogen, nachdem sie mehrere Gässchen und Sträßchen durchquert hatten, in eine der Hauptstraßen Ravinias ein. In einiger Entfernung vor ihnen ragte der Uhrenturm auf, der mitten auf dem Marktplatz stand.
    Â»Was ist mit den toten Raben?«, wollte Lara wissen.
    Â»Die Raben sorgen selbst für ihre Toten«, antwortete Lord Hester nur.
    Und so bildeten sie einen schweigenden Tross, der durch die wenig belebten nächtlichen Straßen Ravinias schritt. Sie trafen zwei Nachtwächter, die ganz altmodisch mit Hellebarde und Laterne ausgerüstet die späten Stunden ansagten. Sie passierten den Marktplatz, ließen den Uhrenturm links liegen. Vorbei an der Kathedrale St. Anna Rosa am Fluss, vorbei am alten Kino von Ravinia, vorbei an Häusern, Ämtern und Villen, vorbei am großen Ratsgebäude, bis sie schließlich über eine Brücke die zweite Insel erreichten. Hier thronte die Burg Ravinia. Düster, düstergolden ragte das mächtige Bollwerk mit all seinen Türmen in den Nachthimmel hinauf.
    Und über ihnen kreiste stets ein Dutzend Raben. Leise und schwarz wie die Nacht.

9. Kapitel, in dem es ein großes Wiedersehen gibt und einige Pläne geschmiedet werden.
    Wer ist’s, der den Ratschluss verdunkelt mit Worten
    ohne Verstand? …
    Ich will dich fragen, lehre mich!
    Wo warst du, als ich die Erde gründete?
    Sage mir’s, wenn du so klug bist!
    Â  Buch Hiob
    â€“ Szenenwechsel.
    Manchmal scheint das Leben ein Witz zu sein. Besonders, wenn man in der Lage ist, damit zu spielen.
    Der Frühling war wärmer geworden als sonst. Es herrschten fast schon sommerliche Temperaturen, was sich selbstverständlich auch in den lauen Nächten abzeichnete. Wolf mochte dieses Wetter. Es machte das Leben leichter, wenn er in der spätesten Nacht nach Hause schlenderte. Außerdem mochte er die Stadt.
    Wien.
    Er war im Laufe der Jahre bescheiden geworden. Die kleine Wohnung am Burgring genügte seinen Ansprüchen völlig. Es war gemütlich dort, er hatte alles, was er brauchte – gerade genug Platz für ein Klavier, eines mit Dämpfern, um die Nachbarn nicht allzu sehr zu belästigen –, und außerdem wohnte er mitten in einer der verrücktesten Städte der Welt. In der Welthauptstadt der Musik. Zumindest hatte diese Aussage für ihn lange Zeit Bestand gehabt, bis er den Jazz für sich entdeckt hatte. Es war nicht etwa so, dass er der Klassik oder später der Romantik völlig abgeschworen hatte, aber der Jazz war es gewesen, der sich über die althergebrachten Systeme hinweggesetzt hatte und dennoch in der Lage gewesen war, einen

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