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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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hoffentlich – etwas Schlaf zu finden.

    Spiegel waren grausam. Wahrscheinlich, weil sie einem die Wirklichkeit unverhohlen zeigten.
    Wolf stand im Halbdunkel des kleinen Flurs seiner Wohnung und blickte in den Garderobenspiegel. Ein seltsames Gesicht starrte ihm entgegen. Es war auf eine gewisse Weise jungenhaft, obwohl die Person, der es gehörte, unzweifelhaft Mitte dreißig sein musste. Die Augen darin wirkten klar, hielten aber in ihrer Tiefe ein unmenschliches Alter verborgen. Sie waren nun einmal der Spiegel der Seele. Zweihundertfünfzig Jahre. Wolf schüttelte den Kopf.
    Plötzlich zuckte etwas in seinem Augenwinkel, doch als er sich umdrehte, schoss bereits ein greller Blitz durch den Raum und schien in jede Lampe, in jede Glühbirne und jede Kerze zu fahren und sie zu entzünden. Selbst aus der Schublade der Kommode heraus drang das Licht einer Taschenlampe, die dort zwischen Halstüchern und Handschuhen lag.
    In der Tür zum Wohnzimmer stand ein Mann. Er war düster angezogen, trug einen langen dunklen Mantel, an dem eine große Sammlung silberner Kinkerlitzchen baumelte. Seine Haare hingen ihm in feinen Korkenzieherlocken bis über die Schultern herab und rahmten ein Gesicht mit einer großen, hakenförmigen Nase.
    Wolf wusste, wen er vor sich hatte. Der Kerl hatte ihn schon einmal besucht und war damals ziemlich lästig gewesen, aber schließlich hatte er ihn abgewimmelt.
    Â»Guten Abend«, sagte eine Stimme, die wie Wüstenwind klang. »Oder sollte ich Guten Morgen sagen?«
    Â»Ma’Haraz, richtig?«, presste Wolf zwischen den Zähnen hervor.
    Sein Gegenüber nickte nur und winkte Wolf einladend in dessen eigenes Wohnzimmer, wo er sich in einen weichen Ohrensessel plumpsen ließ. In der Hand hatte er den wohl wertvollsten Besitz aller Zeiten – zumindest in Wolfs Augen. Die Herkules Stradivari. Etwas, das man Wolfs Meinung nach mit mehr Wertschätzung zu behandeln hatte als ein Baby. Wolf hielt es für einen seiner genialsten Coups, dass er sie vor ungefähr hundert Jahren Eugène Ysaÿe entwendet hatte. Er hatte nur ein Mal, wirklich nur ein einziges Mal in seinem Leben gestohlen, aber dieses eine Mal war es wert gewesen. Gäbe es einen sadistischen Gott, der seine Kinder am Ende ihres Lebens für jede Sünde jahrelang die Fegefeuer blicken ließe, so würde Wolf wahrscheinlich jede Sekunde in schweigender Genugtuung ertragen, nur für dieses Instrument.
    Die Beute aus seinem Coup befand sich nun allerdings in den grausamen Händen eines irren, hakennasigen Arabers – wenn er denn ein Araber war, aber das war Wolf auch egal.
    Ma’Haraz bedeutete Wolf, sich auf die Couch ihm gegenüber zu setzen, ein Befehl, dem er nachkam.
    Â»Sieh mal einer an«, meinte Ma’Haraz. »Du lebst immer noch. Siehst sogar jünger aus als vor Jahren. Ich bin überwältigt, muss ich zu meiner Schande gestehen.«
    Es klang wie Spott und bloßer Hohn aus seinem Mund. Ma’Haraz war ein niederträchtiger Kerl, das hatte Wolf schon bei ihrem letzten Treffen vor über zehn Jahren herausgefunden. Allerdings beherrschte er einige bemerkenswerte Tricks, die es Wolf leider unmöglich machten, ihn gewaltsam hinauszuwerfen. Abgesehen davon hielt er ja auch die Stradivari in den Händen – wobei halten eigentlich der falsche Ausdruck war für das, was Ma’Haraz da tat. Verachten traf es besser.
    Â»Ich will nicht lange plaudern«, fuhr Ma’Haraz fort, als Wolf offenbar nichts weiter zu sagen hatte. Was denn auch? Er hatte ihm eigentlich schon zu viel gesagt, damals bei ihrem ersten Treffen. Aber Ma’Haraz war vortrefflich gut informiert gewesen über Wolfs geschickt eingefädelte Maßnahmen, mit denen dieser sich dem ganzen Salzburger Dreck entzogen und sein Leben umgekrempelt hatte. Er war darüber im Bilde gewesen, wie Wolf die Welt glauben gemacht hatte, er sei in einem nicht gekennzeichneten Grab beerdigt worden, an dessen Lage sich schließlich nicht einmal Constanze zu erinnern vermocht hatte.
    Â»Ich brauche etwas von deiner Musik«, brachte der Mann mit der Wüstenstimme es auf den Punkt.
    Wolf machte große Augen.
    Â»Keine Angst«, versuchte Ma’Haraz ihn zu beruhigen. »Ich brauche es nicht für mich. Mir steht es fern, ewig zu leben. Ich finde, dieses Leben bekommt seine Würze dadurch, dass man nicht ewig Zeit hat für alles. Ich brauche

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