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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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Siegeszug um die Welt anzutreten. Mit Freuden dachte er an die Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts zurück, als die Menschen in Europa sich hatten fallen lassen. Sie hatten sich fallen lassen in die Arme der Jazzmusik, hatten ihre von der Wirklichkeit betäubten Körper im Takt von Chicago- und Swing-Jazz bewegt. Ein Mal, ein einziges Mal hatte es die Musik geschafft, sich über alle gesellschaftlichen Stände und Konventionen hinwegzusetzen.
    Sicherlich, die Amerikaner und die Briten mochten auf die Liverpooler Szene der Fünfziger- und Sechzigerjahre verweisen, mochten sich in den Schatten der revolutionären Stimmungen sonnen und mit zerspielten Fingern auf Woodstock und seine großen Gestalten zeigen.
    Aber die Skepsis war in jener Zeit nie völlig aus der Welt geschafft worden. Die ältere Generation nahm es nicht einmal als kulturellen Bestandteil der Gesellschaft wahr, erkannte keinerlei Musik in den Tönen des Gitarrenspiels eines John Lennon oder eines Paul Simon. Die folgenden Generationen behielten zwar eine Grundidee von Popmusik bei, aber erfanden schon bald Computer und somit den Anfang vom Niedergang des Handwerks der Musik. Außerdem taten sie so, als hätten sie ihre vom Sound der Sechziger mitgerissenen Eltern nie wirklich kennengelernt. Er war ihnen einfach fremd.
    Wolf schüttelte im Gehen den Kopf.
    Nein, er war sich sicher, dass die Zwanzigerjahre die einzige Zeit gewesen waren, die das Potenzial gehabt hatte, die Menschen musikalisch bis ins tiefste Innere zu bewegen. Alle Menschen, ohne Ausnahme. Doch dann war die Welt in den Flammen der Grausamkeit untergegangen, und das Feuer hatte den Jazz davongespült. Hatte ihn in die Ecke gedrängt, wo er nun ein Schattendasein ertrug, ähnlich einer vom Aussterben bedrohten Tierart.
    Er schlenderte über den Petersplatz und musste erneut daran denken, dass es eigentlich schön war, hier zu sein. Wien war ein Tollhaus, das einen Balanceakt zwischen absoluter Bohème und einer seichteren Form moderner Lebenskultur versuchte. Ein begehrtes Stück Welt in verwirrten Zeiten wie diesen. Aber was störte ihn das? Seine Anstellungen als Barpianist in der Innenstadt reichten aus, um seine Miete und von Zeit zu Zeit eine verrückte Idee zu bezahlen.
    Das Einzige, was ihn auffraß, war die Melancholie eines viel zu langen Lebens. Nun gut, damals in Salzburg hatte er einen Schlussstrich ziehen müssen, es wäre so nicht weitergegangen. Er war drauf und dran gewesen, den Verstand zwischen seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen zu verlieren. Außerdem hatte er die Stadt gehasst.
    Aber das Leben danach war völlig anders gewesen. Nicht nur weil sich im Laufe der Zeit die Welt zu wandeln begann. Das – so dachte er – war das Normalste überhaupt. Der Mensch war erfinderisch, und jede Entwicklung war eine notwendige Ausgeburt seiner Kreativität. Despoten, Kriege, Staaten und Länder kamen und gingen. So war der Lauf der Dinge. Mit ein wenig Talent ließ sich das alles überwinden, und überall war ein Neuanfang möglich.
    Leider waren aber auch jegliche Freunde gekommen und wieder gegangen. Die wenigen echten, wahrhaften Freunde, die selbst um sein teuerstes Geheimnis wussten, waren irgendwann genauso dem Alter erlegen wie die falschen Freunde, die sich aufgrund von Begabung oder gesellschaftlichen Wohlständen um ihn geschart hatten. So war es immer gewesen. Und so wurde er im Laufe der Zeit immer sparsamer mit dem wertvollen Gut der Freundschaft.
    Denken.
    Denken.
    Denken war immer schon sein Problem gewesen. Er dachte eindeutig zu viel. Auf der einen Seite war dies gut, denn so sicherte er sich dank immer neuer Ideen das Überleben. Auf der anderen Seite war es ein Fluch, denn es machte ihn rastlos.
    Ein frischer Windhauch – womöglich aus kälteren Tagen übrig geblieben – wirbelte durch seine Haare, die am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Er schlug den Kragen seines knielangen Mantels auf, stopfte sein Halstuch zurecht. Jeder Künstler sollte ein Halstuch tragen, fand er. Dann begann er, einen Sechzehntel-Lauf zu summen, der ihm gerade durch den Kopf ging, und überlegte, wie er ihn in den Auftritt am morgigen Abend einbauen konnte. Und so setzte er einen Schritt vor den nächsten, während links von ihm die Hofburg in ihrem grellen Scheinwerferlicht erstrahlte. Er wollte nach Hause, um –

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