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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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krummen Dolch raste unbarmherzig nieder und rammte die Klinge in Henry McLanes Oberschenkel.
    Der kraftlose alte Mann heulte auf, und das Bein sackte ihm weg. Und Lara schlug die Hände vor den Mund. Nein, nein, nein, sie war so dumm. Es blieb ihr keine Wahl, sie würde lesen müssen. Sie blickte reihum in die Gesichter und sah Francescos tiefe Traurigkeit, Lees Trotz und die Unbarmherzigkeit der Sturmbringer. Sturmbringer? So hatte Berrie sie genannt. Aber scheinbar traf der Name zu.
    Während Henry McLane an Valerius’ Seite langsam zu Boden sank, zog Lee seinen Gürtel aus der Hose, um das verletzte Bein des alten Mannes abzubinden. Ja, das musste sie Lee lassen, vielleicht war er ein Schlitzohr und ein Draufgänger, aber er bewahrte sich immerhin den Funken Anstand für sich auf, der den Unterschied machte.
    Sie schloss die Augen, straffte die Schultern und drehte sich um. Dorthin, wo das Schicksal eingraviert auf einer dünnen Messingplatte wartete.
    Während sie versuchte, sich zu konzentrieren, ruhiger zu atmen, bildeten sich langsam Buchstaben im uralten Messing.

    Das Wissen, so nennt man die Flamme der Weisen,
    die Köpfe erleuchtet und Seelen beschwert,
    die ewig schon unsere Weisheit betört.
    Ein Feuer, in dessen Pracht glühen selbst Eisen,
    das Lebende frisst und die Toten beschwört.
    Entbehrt es auch jeglicher Weisheiten Kreise,
    so ist doch die Absicht von höherer Art.
    Die Seele der Stadt, die so hauchfein und zart,
    zu schützen durch Wissen in hütender Weise,
    das fortan vor Schrecken des Winters bewahrt.

    Sie las und las. Ohne Betonung, ohne Versmaß, ohne Pause. Es war, als erhitze sich die Luft vor ihrem Mund, als würde sie unsichtbare Flammen in alle Winkel der Welt speien. Scharf, hitzig, böse.
    Als sie geendet hatte, herrschte Stille in dem Raum. Die absolut geräuschloseste Stille, die jeder der Anwesenden jemals erlebt hatte. Und dann geschah es.
    Die Farben des Gemäldes verschwammen. Nein, sie verschwammen nicht, sie flimmerten. Das gesamte Bild flimmerte. Es schien sich aus seinem Rahmen biegen zu wollen, während die Luft um alle herum unerträglich heiß zu werden begann.
    Schließlich durchbrach ein Schrei die Stille wie ein Hammer eine Eisdecke im Winter. Es war ein derart unmenschlicher, ja ganz und gar unnatürlicher Schrei, dass sich alle Beteiligten – selbst der toughe und mit allen Wassern gewaschene Meister Ma’Haraz – die Ohren zuhielten.
    Dann fiel etwas auf den Boden. Auf den verschmorten Teppich neben die Kristallkugel. Und dieses Etwas als Menschen zu bezeichnen, fiel schwer.
    Die Erscheinung hatte so wenig Kraft, dass sie sich nicht einmal alleine aufzurichten vermochte. Auf Ma’Haraz’ Wink hin eilte Valerius heran und hob auf, was nicht mehr Bild, sondern bittere Wirklichkeit geworden war.
    Dies war Roland Winter. Eine Erscheinung, die einem das Herz stehen lassen konnte. Die Haut hing ihm in Fetzen herunter und war zerlaufen wie die Leinwand, die noch Augenblicke zuvor sein Gefängnis gewesen war. Haare sprossen nur noch vereinzelt auf seinem Kopf, der Anzug hing in Streifen von dem deformierten Körper herab, dessen Knochengerüst nicht mehr vorhanden schien, so wenig Halt gab es diesem Häuflein Mensch. Staub fiel von dem geschundenen Körper herab und hinterließ kleine Sandhaufen auf dem Boden, Schleim und andere Körperflüssigkeiten rannen ihm aus Nase, Mund und Ohren.
    Ma’Haraz und seine Verbündeten fielen augenblicklich auf die Knie und neigten die Köpfe.
    Â»Mein Lord«, verkündete Ma’Haraz geradezu feierlich.
    Doch als Antwort bekam er etwas, das nicht einmal mehr entfernt Ähnlichkeit mit einem Röcheln hatte.
    Alarmiert sprang er auf.
    Â»Rasch«, befahl er seinen Komplizen. »Bringen wir ihn in Sicherheit!«
    Man befahl Francesco, den armen Henry McLane zu tragen, und trieb Lara und Lee mit den Armbrüsten vor sich her, während Roland Winter – oder das, was von ihm übrig war – mit aller Behutsamkeit, aber entschlossener Eile hinausgeschafft wurde.
    Doch da der Zufall von Zeit zu Zeit ein dunkles Gewand anzieht und sich Schicksal nennt, gerieten sie alle ins Stocken, als sie voller Hast auf den alten Fabrikhof drängten und die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war. Denn manchmal ergibt sich für den Verlierer eines Spiels kurz vor Schluss doch noch die Möglichkeit zu einem

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