Raya und Kill - Gefaehrliche Grenze
auf und gebe
Kill das Messer zurück. Ich drehe mich um, gehe zur mittleren Zelle und hocke
mich zur Frau.
»Hier. Ich helfe Ihnen, es anzuziehen.«
Sie spuckt mich an und erwischt mein Hosenbein.
Ihr Blick straft mich mit Verachtung.
»Sparen Sie sich das für die, die es verdient
haben«, zische ich. »Überziehen!«
Sie fügt sich. Ich verknote das Hemd am Rücken. »Sind
die Flügel in Ordnung?«, frage ich und betrachte die langen, teilweise
verbogenen und zerfledderten Federn.
Sie erhebt sich und spreizt die glanzlosen,
aschgrauen Schwingen. Ich erhebe mich ebenfalls aus der Hocke und stelle mich
neben sie. Die Greiferfrau ist einen Kopf größer als ich, aber zu ausgezehrt,
um kämpfen zu können.
»Die Männer fanden es lustiger einen Engel zu
vergewaltigen«, krächzt sie mit rauer Stimme. »Deshalb sind die Flügel noch
dran.«
Mein Blick fällt auf ihre verstümmelten Fingerstümpfe.
»Und die …?«
»Feige Schweine. Ohne Krallen war ich wehrlos.«
»Das tut mir leid. Sie können sich wieder setzen.«
Über die Mauer hinweg sehe ich, dass Kill dem
Greifer in der Nachbarzelle etwas zu Essen einflößt. Der Mann wehrt sich
dagegen, atmet noch hektischer. Kill gibt auf und schiebt mit einer Schaufel
die Exkremente in einen Eimer. Das Metall der Schaufel kratzt auf dem rauen
Stein.
Erikson hockt sich neben eines der Kinder, er
quetscht Salbenreste aus einer leeren Tube und verstreicht sie mit bloßen
Fingern auf der offenen, brandigen Wunde am Rücken. Dann legt er einen der Stofflappen
darüber.
Er sieht mich an. »Mistral, fassen Sie keine
Wunden an!« Er erhebt sich. »Ich muss die Hände desinfizieren gehen.«
Das Kind schlingt die Arme um die Knie, dreht den
Kopf nach unten und wiegt sich rhythmisch. Es ist nicht zu übersehen, dass es
höllische Schmerzen hat, obwohl es keinen Laut von sich gibt.
Ich reiche dem anderen Kind Brotkrusten und
Käserinden.
Erikson kommt zurück. Er drückt eine Tablette aus
der Verpackung und gibt sie dem todkranken Kind. Aus dem Eimer mit den
Lebensmittelresten fischt er zwei Apfelhälften. »Hier, dann schmeckt die
Tablette nicht so bitter.«
Das Kind gehorcht.
»Seid ihr Geschwister?«, frage ich das andere
Kind. Es wirkt etwas fitter auf mich. Ob Mädchen oder Junge kann ich nicht
erkennen. Es nickt ängstlich. Ich blicke zur Frau. »Eure Mutter?« Sie schütteln
den Kopf.
»Wo ist die Mutter?«, frage ich die
Falkgreifer-Frau.
»Tot«, sagt sie.
Vorsichtig strecke ich die Hand nach dem
schwerkranken Kind aus. Es weicht ängstlich zurück.
»Schon gut«, sage ich und taste nach seiner Stirn.
»Ich will nur wissen, ob du Fieber hast.«
Hat es! Sehr hoch sogar. Es glüht.
Schweigend betrachte ich den blutverkrusteten
Rücken des anderen Kindes. »Das ist gut verheilt«, sage ich erleichtert.
»Es hat Glück gehabt«, murmelt Erikson. »Die Wunde
hat sich schnell geschlossen.«
»Glück nennen Sie das?« Wütend funkele ich ihn an.
Er umfasst mein Handgelenk und presst es zusammen.
Fester, viel fester als Connor vor ein paar Tagen zugedrückt hat. Ich erinnere
mich blitzartig an den Streit und an meine Reaktion. Diesmal muss ich besonnen
bleiben. Vorsichtig sauge ich die Luft ein, kämpfe meine Tränen und meine Wut
nieder und halte Eriksons Blick stand. Er lässt los.
»Mistral, nehmen Sie den Eimer mit den
Exkrementen. Rechts, am Ende des Ganges befindet sich eine Latrine. Entsorgen
Sie das!«
Ich gehorche, verlasse den Raum. Als ich zurück
bin, haben die Frau und die Kinder die spärlichen Essensreste verschlungen.
Noch einmal hocke ich mich zu den Kindern. Ich ziehe ein Kaugummi aus der
Hemdtasche. Mein letztes. »Kennt ihr das?«
Sie schütteln den Kopf.
Ich wickele den Streifen aus und teile ihn in zwei
Hälften. »Am Anfang schmeckt es süß wie … Pfefferminze und Honig … später
beruhigt es. Das ist ein kleines Wunder, denn es wird nie weniger. Also nicht
runterschlucken. Nur drauf kauen!«
Sie nicken.
Wir gehen. Hinter der Tür befindet sich an der
Wand ein Plastikgefäß mit einer hellblauen Flüssigkeit.
»Hände desinfizieren!«, sagt Erikson und zeigt
darauf.
Kill zuckt mit den Schultern. »Wozu soll das
Wasser gut sein?«
Er hält die Hände darunter und verreibt sie
gegeneinander.
Plötzlich dämmert mir, was ich zu tun habe. Ich
reiße die Flasche mit dem Alkohol von der Wand. »Da drinnen stirbt ein Kind und
hier ist das Zeug, das wir brauchen.«
Erikson öffnet erneut die Tür. Ich laufe zurück in
den Raum, hocke
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