Raya und Kill - Gefaehrliche Grenze
uns über
wichtigere Dinge unterhalten.« Er schiebt mich beiseite, durchschreitet den
Raum und tritt hinter einen riesigen Holzschreibtisch. Dort stützt er stehend
die Fäuste auf die Platte, indem er sich vorbeugt. Dann reckt er das kantige
Kinn hoch.
»Ich vertrete in einer Voranhörung meinen Vater.
Du hast Glück. Du hast jetzt die Gelegenheit, dich zu rechtfertigen. Tritt
näher!«
Mein Herz will jubeln, aber wenn ich in Pa:ris’
Gesicht schaue, sehe ich düstere Wolken auf seiner Stirn. Warum nimmt er mir
meinen kleinen Ausbruch so übel? Wir haben doch früher solche Dinge gemeinsam
getan. Gut, ich gebe zu, wir sind nicht
aus den Stadtmauern ausgebrochen.
»Pa:ris, ich wollte dich nicht verärgern…«,
beginne ich.
»Schweig! Du redest nur noch, wenn ich dich dazu
auffordere.«
»Fuck«, murmele ich kaum hörbar. Was geht hier ab?
Das ist nicht der Pa:ris, den ich glaube zu kennen. Bis eben habe ich mir
eingeredet, er sei noch der Junge, mit dem ich bis vor Kurzem zur Schule
gegangen bin. Ich erkenne ihn nicht wieder.
Unmerklich beginne ich zu zittern. Ich stehe
mitten im Raum und weiß nicht, was ich sagen soll.
»Tritt näher und setz dich!« Pa:ris nickt mit dem
Kopf zu einem Holzstuhl vor seinem Schreibtisch. Er greift unter die
Tischplatte, drückt dort einen Schalter und die Deckenlampe erhellt den Raum
bis in den letzten Winkel. Ich setze mich. Das Licht wirft harte Konturen in
sein Gesicht. Seine Wangengrübchen wirken wie schwarze Löcher und seine gerade
Nase ragt so scharf hervor wie ein Stück Holz. Seine Augen kann ich nicht
einmal erkennen. Stirn und Augenbrauen werfen Schatten, solange er auf das
Gerät vor sich auf dem Tisch blickt. Mit ruhiger Handbewegung klappt er den
Deckel hoch und schiebt einen kleinen Stick an der Seite hinein. Der Computer
surrt und pfeift einen kurzen Moment. Dann drückt er eine Taste auf einem
zweiten, mir zugewandten Monitor. Der Bildschirm blitzt weiß auf und endlich kann
auch ich erkennen, was er sieht.
Er hebt den Kopf und sieht mich an. Seine Miene ist
wütend und da ist noch etwas, das ich nicht deuten kann. Ist es Eifersucht?
Oder Enttäuschung? Hass …?
»Erkläre mir das!«, sagt er ruhig.
»Ich sehe nichts«, lüge ich, obwohl ich sofort die
Landschaft vor der Stadtmauer erkenne.
»Dann beuge dich gefälligst vor!«, herrscht er
mich an. Ich rücke den Stuhl zurecht und beuge mich über den Tisch. Wie
zufällig lege ich eine Hand neben den Computer. Er zieht seine sofort zurück.
Früher konnte ich ihn immer mit einem Händedruck besänftigen. Seit wann reicht
ihm das nicht mehr?
In meinem Herzen macht sich eine beklemmende Enge
breit. Es tut so weh, denn ich begreife, dass ich meinen besten Freund verloren
habe. Ich verstehe nur nicht, warum das alles geschieht.
»Ich helfe dir gerne auf die Sprünge«, sagt er
eiskalt und ohne jede äußerliche Emotion.
Ich beginne zu frösteln.
Er drückt auf die Tastatur und zoomt das Bild
näher. Da erblicke ich mich, wie ich auf die Stadt zulaufe. Mir wird
abwechselnd heiß und kalt. Wie konnte ich das nur übersehen? Irgendwo an der
Stadtmauer hing offenbar eine Kamera. Ihr Radius reichte über den Schrottplatz
bis zum angrenzenden Wald. Das Licht steht günstig und man sieht ein Stück in
den lichten Wald hinein.
Am liebsten würde ich mich jetzt unter dem
Schreibtisch verkriechen. Die Aufnahme ist gestochen scharf. Ich mag kaum
hinsehen. Der oberste Knopf meiner Bluse ist geöffnet, der Stoff ist von einer
Schulter gerutscht. Verrückt, jetzt da ich mich auf dem Video erblicke, fällt
es mir wieder ein. Wie der Wolfer an diesem Knopf genestelt hat. Ich hatte das
verdrängt.
Die Kamera zoomt gnadenlos noch näher, zeigt meinen
Gesichtsausdruck. Ich gebe zu, ich wirke nicht panisch, sondern vor allem in Eile.
Die Kamera fährt wieder etwas zurück, und was ich nun sehe, lässt mir das Blut
in den Adern gefrieren.
Hinter mir läuft der Wolfer, er überragt mich um beinahe
zwei Köpfe, und er lächelt. Seine Augen blitzen verlangend. Ich sehe seine muskulöse,
nackte Brust, den blutenden Kratzer über der Schulter. Er trägt eine eng
anliegende schwarze Lederhose, durch die jeder Muskel seiner Oberschenkel
hervorquetscht. Mir ist bewusst, dass Pa:ris das auch sieht. Er fragt sich, ja
er muss sich das fragen – warum der Wolfer mich nicht niederreißt und tötet,
warum der Typ hinter mir lächelt.
Plötzlich bleibe ich stehen und blicke nach
rechts. Das war der Moment, als die anderen drei
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