Raya und Kill - Gefaehrliche Grenze
den Zehen. Im Stillen
bete ich, dass dieser Stab fester in der Wand steckt, als der andere. Ich lasse
die linke Hand los und packe nach der oberen Kante der Felswand. Jetzt das Ei.
Ich klemme es zwischen die Zähne, da ich Hände und Füße für den Rückweg
brauche.
In Gedanken überschlage ich die Zeit. Nie und
nimmer schaffe ich es in fünf Minuten. In der Halle ist es still geworden. Gut
so, dann kann ich mich besser konzentrieren. Vermutlich sind alle längst in der
Pause. Den Rückweg schaffe ich leichter, da sich mir mittlerweile jeder
Zentimeter der Wand ins Gedächtnis eingebrannt hat. Ich blicke zu Boden, drücke
mich ab und springe die letzten zwei Meter.
Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass die gesamte
Klasse schweigend vor mir steht. Connor klatscht langsam in die Hände. Er
verzieht keine Miene. Er lächelt nicht. Der Mund bildet eine schmale Linie.
Warum ist er so verkrampft? Das kann nur eines bedeuten: Ich liege über der
Zeit.
»Mistral!«, ruft der Lehrer mich beim Nachnamen. »Sind
Sie total durchgeknallt?«
Verlegen halte ich ihm das Ei hin.
Er nimmt es an sich, zerquetscht es mit einer Hand
und wirft die Reste gegen die Wand. »Es gibt Aufgaben, die soll man nicht
schaffen.« Er schluckt. »Sie liegen übrigens zwei Minuten über der Zeit.«
Jetzt erst spüre ich, wie mein Herz rast, es
drückt gegen meine Rippen als wolle es ausbrechen. Über meine Stirn rinnt
Schweiß und meine Knie beginnen zu zittern. Ich trete einen Schritt zurück und
lehne mich gegen die Wand. Plötzlich fühle ich mich frei.
»Ich war der Wand nicht ausgeliefert«, sage ich so
ruhig wie ich kann. »Sie ist weder gemein noch ungerecht.«
Ich schlucke, und ich muss wieder an Pa:ris und an
Cesare denken. Sie waren ungerecht. Und ich war ihnen ausgeliefert. In diesem
Moment hasse ich beide.
»Mitkommen!« Der Lehrer zieht mich am Arm hinter
sich her. Er schließt eine Tür auf, läuft mit mir einen Gang entlang, dann eine
Treppe tiefer, wieder durch einen langen Gang, und dann erreichen wir eine
gesicherte Stahltür, die er per Handabdruck freischaltet.
Kurz darauf stehe ich in einer riesigen, fensterlosen
Halle. Sie überragt in der Größe sogar unseren Bahnhofs-Marktplatz. Felsen sind
darin nachgebaut. Irgendwo höre ich Wasser plätschern. Mein Blick fällt auf
einen Hain aus künstlichen Bäumen, rechts von mir befindet sich ein Graben. Das
Licht geht an. Die Halle ist mindestens fünfzehn Meter hoch. Vielleicht sogar
noch höher.
»Wir bilden jeden aus, der den nötigen Kampfgeist
mitbringt. Ab Morgen erhalten Sie ein Sondertraining. Es findet abends nach der
regulären Arbeit statt. Ich erwarte Pünktlichkeit. Sagen Sie das Frau Reisle!
Sie haben zu erscheinen – und wenn ich Sie vom Mond abholen muss.«
Auf der gegenüberliegenden Hallenseite geht eine
Tür auf. Ein merkwürdiges Kribbeln erfasst mich plötzlich. Ich spüre, wie sich
meine Härchen augenblicklich im Nacken und an den Armen aufstellen.
»Das wird ihr Trainingspartner.« Erikson zeigt auf
einen hochgewachsenen Kerl mit braunem Haar und breiten, muskulösen Schultern.
Er trägt eine schwarze Lederjeans. Bei jedem Schritt bewegen sich seine
kräftigen Oberschenkelmuskeln. Er läuft barfuß und sein Oberkörper ist unbekleidet.
Ein dunkles Shirt hängt lässig über seinen Schultern. Mein Trainingspartner
kommt näher, tritt langsam ins Helle. Licht fällt in sein Gesicht, und ich
erkenne das eckige Kinn, den sinnlich geschwungenen Mund und die funkelnden
Bernsteinaugen.
Kill!
Ich mache einen Schritt rückwärts und remple meinen
Lehrer an. Was soll ich dem Lehrer sagen? Er ist ein Wolfer? Sehen Sie das denn
nicht? Blitzschnell gehe ich alle Möglichkeiten durch. Angenommen, Erikson
glaubt mir, dann werden wir beide die Tür nicht lebend erreichen. Falls es ihm
oder mir gelingt, Alarm zu schlagen, dann werden die Gills kommen und Kill
töten.
Irgendwie will ich das nicht. Hier drinnen, auf
diesem megabewachten Gelände, hier hat er keine Chance. Was um Himmels willen
hat ihn hierher getrieben? Ich kann ihn das jetzt nicht fragen.
»S-o-n-d-e-r-t-r-a-i-n-i-n-g. Toll!«, stammele
ich.
Er streckt seine Hand aus. Verlegen greife ich
danach. Mein Herz schlägt einen nie gekannten Galopp ein und mein Puls
beschleunigt auf ein beängstigendes Tempo.
»Hallo junge Dame.«
Da ist sie wieder, diese unglaublich tiefe,
schnurrende Stimme, die mich augenblicklich in seinen Bann schlägt.
»Hi«, grüße ich zurück. Meine Stimme kiekst
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