Raya und Kill - Gefaehrliche Grenze
Platz am Start, während Connor sich die
Handknöchel bandagiert und dann konzentriert auf den Boxsack eindrischt.
Barbie ist für eine verhätschelte Blondine wirklich schnell. Ich starte zeitgleich mit
ihr und werde immerhin Zweite. Eigentlich ein miserables Ergebnis. Doch ich
sehe keinen Grund, mich mehr anzustrengen. Gewiss hätte mich an meiner Schule die
Hälfte der Klasse überholt. Aber in Sektion eins gibt es, so scheint es mir, nur
verwöhnte Gören, die bei ihren Vätern in Ungnade gefallen sind. Kein Wunder, die
Zöglinge, die hier sind, gehören der Premiumklasse an. Andere Schüler gibt es
nicht. Wer auf Standard untergebracht ist, muss arbeiten und hat kein Recht,
sich in der Sporthalle aufzuhalten. Die einzige Ausnahme bin ich.
Der Lehrer bläst in die Trillerpfeife und sieht
mich scharf an. Was habe ich falsch gemacht? Ist ihm meine unpassende Kleidung
aufgefallen? Er winkt mich zu sich. Ich blicke mich um, ob er jemand anderes gemeint
haben könnte. Schließlich trabe ich mit hängenden Schultern los. Meine
Hoffnung, dass er zwischendurch von einem Schüler abgelenkt werden könnte, geht
nicht in Erfüllung. Dann stehe ich vor ihm und blicke in seine stahlblauen,
kühl abschätzenden Augen.
Ich habe das Gefühl, dass er stutzt. Irgendetwas
an mir irritiert ihn. Hoffentlich ist es nicht meine improvisierte
Sportkleidung.
»Sie sind gut, aber Sie haben nicht alles gegeben«,
sagt er und greift nach meinen Oberarmen. »Und da fehlt es entschieden an
Muskelkraft. Das lässt sich aufbauen. Ab sofort bekommen Sie täglich zusätzliches
Training. Wir brauchen Talente.«
Ich senke den Kopf. »Bitte klären Sie das mit Frau
Reisle. Ich bin Abteilung zwei zugeteilt.«
»Und was machen Sie dann hier?«
»Es gab kein freies Zimmer für mich«, lüge ich.
»Ach?« Er mustert mich und runzelt die Stirn.
Irgendetwas arbeitet in ihm. Ich sehe es genau. Natürlich fragt er sich, warum
ich zwischen zwei Sektionen hänge. Er wird es in meiner Akte nachlesen: Hochverrat! Begnadigt, weil ein machtvoller
und reicher Gönner schützend die Hand über mich hält. Und dann wird Erikson
mich hassen. Ich atme tief durch. »So gut bin ich auch gar nicht.«
»Sehen Sie dort die Kletterwand?«
Ich nicke.
»Sie haben fünf Minuten Zeit, um dort oben das
Plastikei aus dem Nest zu holen und es mir zu bringen.« Er zückt eine Stoppuhr.
»Andernfalls?«, frage ich vorsichtshalber nach,
denn ich kenne gerne das mich zu erwartenden Donnerwetter vorher.
Er hebt beide Augenbrauen. »Haben Sie bei Ihrer
Ankunft das weiße Laken an der Steilwand hinter dem Bahnhof gesehen?«
»Ja.«
»Was stand da drauf?«
»Krieg.«
»Wenn Sie länger als fünf Minuten brauchen, lasse
ich Sie diese Wand hochklettern.« Er drückt die Uhr und ich laufe los.
Merkwürdigerweise muss ich beim Klettern an Kill
denken, wie er hinter mir stand und mich ausgelacht hat. Ich versuche ihn aus
meinen Gedanken zu verdrängen, aber er taucht immer wieder auf, und ich höre
ihn lachen. Ich bin keine Beute. Für niemanden. Innerlich fluchend, suche ich barfuß
Halt in jeder Ritze, die ich finden kann. Da ich größer bin als die meisten
Frauen, kann ich einen Vorteil herausholen. Doch dann komme ich oben an eine
Stelle, an der ich keinen Halt finde. Ich bin ohne Sicherung.
Unter mir liegt eine Matte, aber bei dieser Fallhöhe
breche ich mir den Hals. Panisch blicke ich an der Wand entlang. Da entdecke
ich einen metallenen Knüppel links von mir. Er steckt in einem Loch. Daran
baumelt etwas. Ein Stofffetzen. Ich klettere ein Stück seitwärts und erreiche
das Teil. Es lässt sich herausziehen. Okay,
das ist also der Trick, denke ich, klettere in meine Ausgangsposition und
baue mir damit den nächsten Tritt. Ich erreiche schließlich eine kleine
Wölbung, an die ich mich mit der linken Hand festklammere, während ich mit dem
linken Fuß auf dem Eisen stehe. Der rechte Zeh steckt in einem winzigen Loch.
Kein wirklich günstiger Halt. Mist,
verfluchter, es reicht nicht. Ich hangele blind mit der rechten Hand nach
irgendeiner Stelle zum Festhalten, und tatsächlich erwische ich ein Loch, in
das ich Mittelfinger und Zeigefinger krallen kann. Noch immer steht mein rechts
Bein ungünstig. Ich konzentriere mich auf die rechte Hand und taste mit dem
rechten Fuß nach dem zweiten Metallbügel, der irgendwo rechts stecken muss. Ich
kann ihn nicht sehen. Wenn ich den Kopf drehe, stürze ich ab. Es muss so
klappen. Und endlich spüre ich das kühle Metall zwischen
Weitere Kostenlose Bücher