Raya und Kill - Gefaehrliche Grenze
schmerzhaft meine Schleimhäute angreift.
Alice legt eine Hand auf meinen Unterarm. »Das ist
nicht wahr. Nur hartgesottene Gills essen Greifer-Fleisch. Das hier ist Lamm.
Die Falkgreifer haben eine unserer Schafherden überfallen und alle Tiere
getötet. Morgen reisen neue Gill-Truppen an. Wir rechnen mit einem der
stärksten Angriffe, die wir jemals hatten.« Alice verdreht vielsagend die
Augen.
Vorsichtig probiere ich davon. In der Tat ist es Lämmchen.
Ich kenne so etwas von den Festessen beim Statthalter. Doch diesmal sehe ich ein
unschuldiges Jungtier vor mir, das blökend nach der Mutter über die Weide irrt,
während von oben ein Falkgreifer angreift und ihm die Krallen in die Eingeweide
rammt.
»Warum tun die Biester das?«
»In den Nachrichten heißt es, sie wollen uns noch
vor dem Winter deutlich schwächen.«
Kill
D er Unterricht zieht sich wie
Kaugummi. Ich kämpfe gegen meine Müdigkeit und versuche mich auf den Text zu
konzentrieren, den wir lesen und zusammenfassen müssen. Die halbe Nacht habe
ich wach gelegen und gegrübelt. Ich habe mich vor einem erneuten Treffen mit
Connor gefürchtet. So ganz werde ich nicht schlau aus ihm. Er hat sich dreist
unter uns gemischt, um uns zu bespitzeln. Doch dann hat er sich mir anvertraut.
Seine wahre Aufgabe scheint ihn zu belasten. Trotzdem. Ich kann und darf ihm
nicht trauen. Ich kenne ihn nicht. Mehr als mein Schweigen kann er nicht von
mir erwarten. Den Gedanken daran, dass er mich möglicherweise warnen,
vielleicht sogar vor sich selbst warnen wollte, diesen unerträglichen Gedanken
verdränge ich.
Immer wieder schaue ich mit bangem Herzen zur Tür.
Aber Connor erscheint heute morgen nicht zum Unterricht. Nach einer Weile denke
ich sogar erleichtert, dass es besser so ist.
Irgendwie liegt Unruhe in der Luft. Die Schüler
tuscheln miteinander und scharren mit den Füßen. Aus ihrem Gemurmel entnehme
ich, dass wir für heute oder morgen mit einem schweren Greifer-Angriff rechnen
müssen. Weiß der Geier, wer dieses Gerücht aufgebracht hat. Am Nachmittag
sollen laut Gerüchteküche Gill-Truppen zu unserer Unterstützung eintreffen. Ich
sehe den Gills weniger euphorisch entgegen, denn bisher fand ich es sicherer,
mich auf meine eigenen Instinkte und Kräfte zu verlassen.
Plötzlich kommt mir ein Gedanke, den ich nicht
mehr fortwischen kann. Könnte Pa:ris dabei sein? Wird sein Elite-Kommando auch
hier eintreffen? Einerseits würde ich mich freuen. Endlich ein vertrautes
Gesicht. Andererseits bekomme ich Herzklopfen, denn ich habe in den letzten
Tagen viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Nacht für Nacht habe ich wachgelegen und
seine Schläge auf meinem Rücken gespürt. Am Ende komme ich jedes Mal zu demselben
Schluss: Ich darf ihm das nicht verzeihen. Seinen Gehorsam lege ich ihm als
Schwäche aus. Der Riss zwischen uns beiden wächst jeden Tag, den wir uns nicht
sehen.
Nach dem Unterricht schlendere ich neben Babette
zum Sporttraining. Sie fragt mich, ob ich weiß, wann die Gills eintreffen. Ich schüttele
den Kopf. Woher soll ich so etwas wissen? Mehrmals fragt sie mich, ob ihre
Locken auch wirklich gut liegen. Selbst ich sehe, dass sie sich heute morgen
besonders sorgfältig frisiert und geschminkt hat. Eigentlich nerven mich
Tussis, die zu viel in den Spiegel schauen, aber heute bin ich dankbar für
Barbies Gesellschaft. Sie lenkt mich davon ab, allzu viel zu grübeln.
Erst als ich die Sporthalle betrete, kehren die
Wirbelstürme in meinen Bauch zurück. Am liebsten möchte ich mich auf der
Toilette verkriechen.
Aber keine Chance.
Erikson übersieht vielleicht den
Zimtsommersprossigen, obwohl er feuerrote Haare hat, aber mich lässt der
Sportlehrer nicht aus den Augen.
Wir müssen heute über Hindernisse laufen. Barbie wird
wie immer Erste, ein blonder Junge, dessen Namen ich mir nicht gemerkt habe,
wird Zweiter, ich werde Dritte.
Plötzlich steht Erikson hinter mir. Ich spüre ihn
wie einen kühlen Windzug und sehe den Schatten, den er auf den Boden wirft.
Erschrocken fahre ich herum. Er legt eine Hand auf meine Schulter. Vom Laufen
bin ich noch aus der Puste, aber nun japse ich aus anderen Gründen: Furcht.
»Mistral, Sie haben nicht alles gegeben. Heute
Abend, um neunzehn Uhr, bekommen Sie die Gelegenheit dazu, das nachzuholen.«
Ich nicke und versuche seinem Blick auszuweichen.
Aber als ich aufblicke, steht er immer noch vor mir und seine blauen Augen
scheinen mich zu durchdringen.
»Benötigen Sie eine Wegekarte oder finden
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