Raya und Kill - Gefaehrliche Grenze
unserem Verlangen nachgeben, dann werde ich nichts bereuen.
Plötzlich reißt Kill sich mit einem Ruck von mir
los. Seine Hände umschließen ein letztes Mal meine heißen Wangen. Dann öffnet
er den Türriegel und späht in den Gang. Er schiebt mich in den Flur. »Wir sehen
uns wieder.«
»Ich warte auf dich.«
Benommen gehe ich ein paar Schritte. Dann halte
ich es nicht aus. Ich drehe mich um und laufe zurück.
»Kill?«, flüstere ich.
Doch der Raum ist leer. Nur noch sein Geruch liegt
in der Luft. Mit Tränen in den Augen laufe ich zurück zu meiner Unterkunft.
Gefährliches Erbe
D en ganzen Tag über begleitet
mich das Gefühl, der Zeit hinterher zu laufen. In Gedanken gehe ich die
kommenden zehn Minuten durch. Ich muss duschen. Und dann werde ich diesen unmöglichen
grünen Fummel anziehen, um Connor zu beeindrucken. Ihm wird das Teil gefallen.
Männer stehen auf solche Fetzen. Ich nicht. Seit Pa:ris mich in meinem
schönsten Kleid gefoltert und gedemütigt hat, hasse ich Kleider. Röcke machen
mich ängstlich und verletzlich, sie lassen mich wie ein schwaches Mädchen aussehen,
nicht wie eine Kämpferin.
Egal ob Kleid oder Hose, was das Allerwichtigste
ist, ich muss mir gleich von Becky das Medaillon zurückholen. Leider habe ich
keine Ahnung, wie ich das machen soll.
Zögernd betrete ich den Raum. Zu meiner Überraschung
ist niemand da. Merkwürdig. Abendessen gibt es bis acht Uhr. Becky, Alice und
Kiki müssten längst zurück sein. Leise schließe ich die Tür.
Himmlische
Heerscharen, ist das ein Wink des Schicksals? Ich muss die Gelegenheit
ergreifen und Beckys Sachen durchsuchen. So eine Chance gibt es nur einmal.
Ich eile zu ihrem Spind. Mit zitternden Fingern
drehe ich den Riegel und öffne die knarzende Tür. Eilig durchwühle ich Hemden,
Hosen und Wäsche – jeden Moment könnte die Tür aufgerissen werden und Becky
sich vor Wut kreischend auf mich stürzen.
Leider suche ich vergeblich. Ratlos blicke ich zum
obersten Regalbrett. Okay, die Box noch,
die da ganz oben steht …
Vielleicht ist das Amulett darin. Ich stelle mich
auf Zehenspitzen und ziehe den Karton vor. Endlich kriege ich ihn so zu fassen,
dass ich ihn von der Ablage nehmen kann. Neugierig lupfe ich den Pappdeckel
einen Spalt breit. Zuoberst blitzt irgendetwas Silbernes. Schmuck? Hastig lege
ich den Deckel beiseite. In der Kiste liegen silberne Ohrringe. Von einem der
Hänger fehlt der Stecker. Der Schmuck ist mit einer Klammer aus Draht an die
Ecke eines aufgerissenen Briefumschlags geheftet. Ich greife nach dem Couvert
und hebe es vorsichtig. Darunter liegen ein Feuerzeug und ein Schlüssel. Meine
Kette ist nicht dabei.
Ich zögere.
Soll ich nachschauen, was im Brief steht? Mit
spitzen Fingern zupfe ich den Umschlag ein Stück auseinander und luge zum Text.
Er ist mit blauer, verblichener Tinte geschrieben.
»Liebe Becky,
ich hoffe, du kannst verstehen, dass der Weg zu
weit ist, um dich zu …«
Beschämt lasse ich los. Das geht mich nichts an.
Sorgfältig lege ich die Pappabdeckung auf den
Karton und stelle die Kiste zurück ins oberste Regalfach. Dann schließe ich mit
schweißnassen Händen die Tür. Ich muss Beckys Bett durchsuchen. Entschlossen
drehe ich mich um. In diesem Moment geht die Tür auf und die Mädchen kommen
herein.
Vor Schreck stolpere ich gegen die Tischkante. Was
bin ich froh, nicht den Brief gelesen zu haben. Nicht auszudenken das Drama,
wenn sie mich beim Schnüffeln erwischt hätten.
»Hi Soraya«, ruft Alice. »Alles okay mit dir? Du
siehst ziemlich merkwürdig aus. Blass und erschöpft.«
»Bin ich auch.«
»Hat Erikschon disch wieder gescheucht?«, fragt
Kiki und tritt näher. Sie blickt mir fragend in die Augen und ich lese in ihrem
Blick noch mindestens eine weitere unausgesprochene Frage.
»Nein.« Ich schüttele den Kopf. »Ich war heute bei
der Getreideernte dabei.«
Kiki reißt die Augen auf. »Disch haben se gelaschen?«
»Sie haben uns sogar höflich um Unterstützung
gebeten.«
»Echt? Alische durfte nüscht mit.«
»Versteh das einer.« Ich zucke mit den Schultern.
Kikis Augen blitzen. »Aber isch war auch da. Wo
warscht du eigentlich?«
»Hm. Merkwürdig. Wir haben uns wohl irgendwie
verpasst. Ich war mit dem Pferdewagen ganz weit draußen.«
»Ach, schade. Da war isch nüscht. Wir muschten
laufen. Erschtes Feld.«
Sie macht ein enttäuschtes Gesicht. Sicher wäre
sie gerne mal hinten auf einem Heuwagen oder auf dem Kutschbock mitgefahren.
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