Raylan (German Edition)
von der Wand fielen. Er hatte ihr erzählt: »Vor dem Krieg gab es in Kentucky hundertdreißigtausend Bergmänner. Heutzutage kratzen nur noch ein paar Dutzend da oben mit ihren Raupen die Kohle von außen aus dem Berg. Mit Kohlebergbau hat das nichts mehr zu tun.«
Womit denn sonst, hatte Marion gefragt, und Otis hatte geantwortet: »Mit Leben auf dem gottverdammten Mond.«
Jetzt sah er den Bulldozer am Rand der Falllinie und das Licht im Inneren des breiten Wohnmobils, das sie als Büro benutzten, und es war ihm egal, ob jemand gerade darin Erbsen zählte: Otis stieg aus seinem Truck, nahm die Flinte hoch und fing an, die Fenster des Trailers kaputt zu schießen. Legte eine Pause ein und sah zu den Maschinen, die abgeschaltet waren und bewegungslos dastanden. Wenigstens musste er so nicht auf jemanden zielen, der schreiend auf ihn zugelaufen kam.
Otis umkreiste den Wohnwagen und zerschoss Fenster, zwei Mal auf seiner Runde lud er nach. Er konnte nicht sehen, ob sich jemand im Inneren befand, bis Boyd Crowder den Kopf aus der Tür streckte. »Otis, bist du bald mal fertig?«
»Als nächstes komme ich rein«, sagte Otis, »schieße das Büro zusammen und setze dich für eine Stunde außer Betrieb.«
»Otis«, sagte Boyd, »wenn ich den Schlüssel zum Dynamitschrank hätte, würde ich ihn dir geben. Ich glaube, ich schulde dir was für den Schaden an deinem Haus, auch wenn es Mr. Gracie war, der das angeordnet hat.«
»Ich habe kein Haus mehr«, sagte Otis. »Es ist weg.«
»Schon gut«, sagte Boyd und zwang sich zu einem begütigenden Tonfall, »aber den Totalschaden hast du dir selbst zuzuschreiben, wegen des Fischteichs.«
»Hast du Mr. Gracie gesagt«, sagte Otis, »dass du mein Haus in Trümmer legst, sobald du damit fertig bist, ihm in den Arsch zu kriechen? Boyd, früher warst du mal jemand, der seinen Mann steht, erinnerst du dich, damals, als wir Duke Power bestreikt haben. Aber was hat uns das schon gebracht?«
»Nicht besonders viel«, sagte Boyd.
»Gar nichts. Das ganze Land hat zugesehen, und das Unternehmen hat behauptet, uns gegenüber mit offenen Karten zu spielen. Dann hat das Land weggesehen. Und das Unternehmen hat uns erzählt, dass es dauert, neue Methoden der Kohleförderung zu finden. Zwanzig Jahre haben sie sich Zeit gelassen, darüber nachzudenken. So ist das und so ist es immer gewesen. Das Unternehmen baut ein Auffangbecken für den Kohlenschlamm, das den ganzen Dreck rausfiltern soll, den sie bei der Kohlenwäsche machen. Dann bricht der Damm, und in den Bach, der meinen Teich speist, fließt Gift. Vierzig Jahre lang habe ich für diese oder ähnliche Leute unter Tage gearbeitet. Und jetzt bringen sie meine Fische um und es interessiert sie überhaupt nicht.«
Dicht hinter ihm sagte Carol Conlan: »Er ist eine Bedrohung.«
Boyd drehte den Kopf zur Seite. »Er hat nur ein paar Fenster kaputt gemacht.«
Er spürte, wie die Konzernlady etwas in den Bund seiner Levi’s steckte, das hart gegen seine Wirbelsäule drückte. Boyd wusste, dass es eine Waffe war, er hatte an dieser Stelle früher schon Waffen getragen. Jetzt sagte sie zu ihm: »Ich weiß alles über Sie, Mr. Crowder. Immer, wenn Sie es für nötig halten, werden Sie zu einem anderen Menschen.«
»Ich lasse mich von meinen Instinkten leiten«, sagte Boyd, »tue immer das Erste, das mir in den Sinn kommt, so, als ob eine höhere Macht mir etwas eingibt und ich nur darauf hören muss. Ich habe gelernt zu denken, ohne erst stundenlang alles zu analysieren.«
»Ich habe Ihnen da hinten jedenfalls eine Neuner-Glock reingesteckt«, sagte Carol. »Ein wütender Mann mit Waffe ist ein hohes Risiko. Wenn er sein Gewehr hebt, erschießen Sie ihn.«
»Otis? Hab Ihnen doch gesagt, er hat nur ein paar Fenster kaputt gemacht.«
»Ich habe weder vor, mich wegen dieser Sache vor Gericht zu verantworten«, sagte Carol, »noch werde ich wegen nichts und wieder nichts mein Leben aufs Spiel setzen. Wir erledigen diese Angelegenheit hier und jetzt. Wenn er das Gewehr hebt, erschießen Sie ihn.«
Otis, keine zehn Meter entfernt, fragte Boyd: »Mit wem sprichst du da?«
»Sagen Sie’s ihm«, sagte Carol.
»Habe gerade Damenbesuch«, sagte Boyd. »Eines der hohen Tiere in der Firma, will sich ansehen, wie wir hier oben vorankommen. Ich hab zu ihr gesagt: Ganz gut, sieht man doch, der Berg wird immer niedriger, oder?«
Carol trat in die Tür und gab Boyd einen Schubs, sodass er einen Schritt nach draußen tun musste. Zu Otis sagte sie:
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