Rebecka Martinsson 03 - Der schwarze Steg
zeichnen, das vom äußeren Augenwinkel bis zu dem hohen Wangenknochen reicht. Das Delta der Tränen.
Sie kommt mit dem Zug aus Stockholm. Die Fahrt dauert einen Nachmittag, einen Abend, eine Nacht und einen halben Tag.
Ich stehe im Wohnzimmer im ersten Stock, wo Mutter und Vater nachts auf dem Schlafsofa schlafen. Antte hat seinen Schlafplatz auf dem Küchensofa. Nur ich habe ein eigenes Zimmer. Einen Verschlag mit Platz für ein Bett und einen Stuhl. Es gibt ein kleines Fenster, so hoch oben, dass ich auf den Stuhl klettern muss, um hinaussehen zu können. Dort stehe ich ab und zu und sehe mir die Bahnarbeiter an, die in ihren gelben Overalls an den Weichen arbeiten. Weil ich ein Pflegekind bin, habe ich mein eigenes Zimmer.
Aber jetzt stehe ich im Wohnzimmer und presse die Nase an die Fensterscheibe. Ich kann die Tante sehen, wenn ich die Augen zukneife.
Es ist mitten im Winter. Stockholm ist Sepia und Ocker auf regenfeuchtem Aquarellpapier. Schwarze, nasse Baumstämme, dünne Tintenstriche.
Ich sehe sie im Zug. Manchmal raucht sie heimlich auf der Toilette. Ansonsten schaut sie aus dem Fenster. Haus um Haus um Haus. Wald um Wald um Wald. Die Seele in Heimkehrstimmung.
Ab und zu schaut sie ihr Mobiltelefon an. Kein Netz. Vielleicht hat er trotzdem versucht anzurufen. Das Klingeln der Bahnübergänge, wo die Autos Schlange stehen und warten.
Sie kann sich nur einen Sitzplatz leisten. Zieht den Mantel wie eine Decke über sich und schläft ans Fenster gelehnt. Die Heizung läuft auf Hochtouren. Es riecht nach verbranntem Staub. Ihre Füße und die schmalen Knöchel in der Nylonstrumpfhose ragen unter dem Mantel hervor, ruhen auf dem Sitz gegenüber und erzählen von Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit. Der Zug schlingert und braust und dröhnt. Es hat große Ähnlichkeit mit dem Leben vor der Geburt.
Mutter und ich holen sie auf dem Bahnsteig in Rensjön ab. Die Tante steigt als Einzige aus. Hier ist kein Schnee geräumt worden. Wir stapfen durch den Schnee. Dunkelblaue Nachmittagsdämmerung. Der Schnee klebt am Koffer.
Sie ist zu stark geschminkt, und ihre Stimme ist ein wenig zu munter, sie plappert und versinkt im tiefen Schnee. In ihrem Stockholmer Mantel und den feinen Schuhen wird ihr eiskalt. Eine Mütze hat sie auch nicht. Ich schleppe den Koffer. Er hinterlässt tiefe Spuren im Schnee.
Die Tante lacht glücklich, als sie das Haus sieht. An der einen Querwand ist der Schnee bis zum Fenster im ersten Stock hochgeweht. Mutter erzählt, dass Vater hinausklettern musste, durch das Fenster im ersten Stock, vor zwei Wochen, und dass er und Antte vier Stunden brauchten, um die Haustür freizulegen.
Die Tante hat Geschenke mitgebracht. Einen teuren Aquarellblock für mich, mit geleimtem Papier.
Mutter ermahnt mich und sagt, ich dürfe nicht alles auf einmal benutzen, dann tadelt sie die Tante, es sei zu teuer.
Anfangs will die Tante solches Essen, wie sie und Mutter als kleine Kinder bekommen haben. Mutter kocht geräuchertes Rentierfleisch und Blutklöße und Blutpfannkuchen und Elchragout, und abends schneidet die Tante Dörrfleisch in dünne Scheiben und isst es, während sie redet. Und dann trinken sie Wein und Schnaps, die die Tante als Geschenk mitgebracht hat.
Vater dreht die Heizung im Wohnzimmer an und hängt abends vor dem Fernseher, Mutter und die Tante sitzen in der Küche und reden. Oft weint die Tante, aber in unserer Familie tun wir so, als ob wir das nicht sähen.
»Du ziehst ja so oft um«, sagt Vater, als er in die Küche kommt, um sich mehr vom Whisky der Tante zu holen. »Vielleicht solltest du dir einen Wohnwagen zulegen.«
Die Tante verzieht keine Miene, aber ich kann sehen, dass die Iris in ihren Augen zum Nadelstich wird.
»Ich schaffe es eben nicht, mir gute Mannsbilder zu suchen«, sagt sie mit trügerisch leichter Stimme. »Ich glaube, das ist eine Schwäche der Familie unserer Mutter.«
Jeden Abend lädt sie ihr Telefon neu auf. Sie wagt kaum, aus dem Haus zu gehen, denn dann wird das Telefon kalt, und der Akku funktioniert nicht mehr.
Eines Abends klingelt es, und es ist der Idiot. Die Tante telefoniert leise in der Küche. Lange. Mutter schickt uns zum Spielen nach draußen. Wir spielen fast zwei Stunden im Dunkeln. Graben uns eine Höhle in der Schneewehe. Auch die Hunde buddeln wie besessen.
Als wir wieder hereindürfen, hat die Tante fertig telefoniert. Ich lausche, während ich Overall und Stiefel ausziehe.
»Ich verstehe das nicht«, sagt Mutter. »Dass du
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