Rebecka Martinsson 03 - Der schwarze Steg
es über dich bringst, ihm immer wieder zu verzeihen. Was für eine Vergeudung von Frauenkraft.«
»›Vergeudung von Frauenkraft‹«, sagt die Tante. »Worein sollten wir unsere Kraft denn sonst investieren, wenn nicht, um ein wenig Liebe zu erbeuten, ehe dieses Leben vorüber ist?«
Das ist ja gerade so schwer, dachte Ester und zog weitere Gewichte auf die Stange. Wenn Mauri zu mir nach oben kommt und sich die Bilder ansieht. Jetzt, wo ich angefangen habe, an die Tante zu denken, kommen auch die anderen Erinnerungen. Zuerst denkt man an etwas Harmloses, dahinter aber drängen sich dann alle Schwierigkeiten auf.
Das Schwierige: Tante und ich fahren über die Landstraße zum Krankenhaus in Kiruna. Dunkelheit und Schnee. Die Tante umklammert das Lenkrad. Sie hat einen Führerschein, fährt aber so gut wie nie.
Das Ende ist nahe. Komisch, dass ich nicht mehr weiß, wo Vater und Antte waren.
»Kannst du dich an die Fliege erinnern?«, fragt die Tante dort im Auto.
Ich gebe keine Antwort. Ein Lkw kommt uns entgegen. Die Tante bremst unmittelbar vor der Begegnung. Das ist das Letzte, was man tun darf, so viel weiß ich immerhin. Da gerät man leicht ins Schleudern, und dann wird man zerquetscht. Aber sie hat Angst und macht Fehler. Ich habe keine Angst. Jedenfalls nicht hiervon. Ich kann mich an die Fliege nicht erinnern, aber die Tante hat schon einmal über sie erzählt.
Ich bin zwei Jahre alt. Sitze am Küchentisch auf dem Schoß der Tante. Die Zeitung liegt aufgeschlagen vor uns auf dem Tisch. Ein Bild von einer Fliege. Ich versuche, die Fliege von der Zeitungsseite zu heben.
Mutter lacht über mich.
»Das geht nicht«, sagt sie.
»Red ihr das bloß nicht ein«, sagt die Tante wütend.
Die Tante hat eine Schwäche für diese Fähigkeit der Familie ihrer Mutter. Blutungen zum Stillstand zu bringen und Dinge zu sehen. Sie ist sicher ein bisschen böse auf Mutter, weil sie ahnt, dass die Schwester mehr von dieser Fähigkeit besitzt, als sie zeigt. Sie will nicht, dass Mutter mich davon fernhält. Schon als ich noch ein Baby war, blickte sie mir in die Augen und sagte zu Mutter: »Siehst du, sie ist ganz áhkku, Großmutter.« Einmal hörte Vater das zufällig.
»Blödes Gerede«, sagte er zu den beiden. »Sie ist mit uns doch nicht einmal verwandt. Das ist nicht eure Großmutter.«
»Er hat keine Ahnung«, sagte die Tante zu mir. Ihre Stimme war trügerisch scherzhaft, aber ich war ja ein Baby, und wer sie hören sollte, das war Vater. »Er glaubt, dass Verwandtschaft nur etwas mit Biologie zu tun hat.«
Ich versuche, die Fliege vom Zeitungsbild zu nehmen. Und plötzlich klappt es. Sie surrt um unsere Köpfe, stößt gegen die Brillengläser der Tante, fällt zu Boden und krabbelt umher, hebt mühsam ab und landet auf meiner Hand.
Und ich schreie. Herzzerreißend und wie wahnsinnig. Die Tante versucht, mich zu beruhigen, aber das geht nicht. Mutter jagt die Fliege aus dem Fenster, und sofort wird sie von der Kälte getötet. Die Fliege auf dem Bild ist noch immer da, aber die Tante stopft die Zeitung dennoch in den Ofen, und mit einem Fauchen wird sie im Feuer zerstört.
»Das war sicher eine Winterfliege, die aufgewacht ist«, sagt Mutter und entscheidet sich dafür, die Realistin zu sein.
Die Tante sagt nichts. Jetzt im Auto, vierzehn Jahre später, fragt sie:
»Warum hast du so geschrien? Wir glaubten schon, du würdest dich nie wieder beruhigen.«
Ich sage, dass ich mich nicht daran erinnern kann. Und das stimmt. Aber das bedeutet nicht, dass ich es nicht weiß. Ich weiß genau, warum ich geschrien habe. Das Gefühl ist dasselbe, wenn es geschieht, und es ist auch später im Leben mit mir passiert.
Ich verschmelze mit allem. Werde aber zugleich weggetrieben. Es ist ein Gefühl der Auflösung. Als führe Wind in eine Talsenke und zerpflückte den Nebel. Ungeheuer beängstigend. Vor allem, wenn man klein ist und nicht weiß, dass es vorübergeht.
Ich merke, wenn es unterwegs ist. Meine Fußsohlen scheinen einzuschlafen. Tausend Nadeln. Dann gibt es zwischen Füßen und Boden ein Kissen aus Luft. Wir sind mehr eins mit unserem Körper, als wir glauben, und es ist schrecklich, von ihm getrennt zu werden.
Ich hätte zur Tante sagen können: Stell es dir so vor, dass die Schwerkraft plötzlich nicht mehr da war. Aber ich will nicht darüber reden.
Ich weiß, warum die Tante mich hier im Auto an die Fliege erinnert. Auf diese Weise will sie mir sagen, dass ich mit Mutter verwandt bin. Dass
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