Rebecka Martinsson 03 - Der schwarze Steg
gekommen sein, nicht wahr? Und hat vielleicht ein Auto gemietet? Es lohnt sich sicher, das zu überprüfen. Sven-Erik und ich fahren zum Flughafen und erkundigen uns, ob jemand sich an einen Mann in einem solchen Mantel erinnern kann.«
MAURI KALLIS HOCKTE oben in Esters Mansarde. Er blätterte in ihren Gemälden und Zeichnungen, die auf zwei Umzugskartons lagen. Inna hatte Farben, Leinwand, Staffelei, Pinsel, Aquarellblöcke besorgt. Alles von erlesener Qualität. »Möchtest du sonst noch etwas«, hatte sie die junge Ester gefragt, die mit ihren Koffern am Fenster stand. »Gewichte«, hatte Ester gesagt. »Gewichte und Scheibenhanteln.«
Jetzt lag Ester auf dem Rücken und stemmte Eisen, während Mauri die Kartons durchwühlte.
An dem Tag, an dem sie gekommen ist, war ich außer mir vor Angst, dachte er.
Inna hatte angerufen und berichtet, dass sie und Ester und Esters Tante unterwegs seien. Mauri war in seinem Arbeitszimmer hin und her gewandert und hatte daran gedacht, wie ihm bei der Beerdigung seiner Mutter zumute gewesen war. Die Schwestern hatten ihr geähnelt. Und von jetzt an riskierte er, immer wieder auf seine Mutter zu stoßen. Es würde ihm vorkommen wie russisches Roulette, wann immer er den Kopf aus der Schlafzimmertür schob. »Ich habe zu tun«, hatte er zu Inna gesagt. »Führ sie rum. Ich rufe an, wenn ihr kommen könnt.«
Am Ende hatte er sich zusammengerissen und angerufen.
Und jede Faser seines Wesens hatte erleichtert aufgeatmet, als sie zur Tür hereingekommen war. Sie war indisch. Sie sah indisch aus. Keine Spur von der Mutter.
Die Tante hatte sich gewunden. »Danke, dass ihr euch um sie kümmert, ich wünschte, ich könnte das tun, aber …«
Und Mauri hatte wie benommen Esters Handgelenk gefasst.
»Natürlich«, hatte er gesagt. »Natürlich.«
Ester schielte zu Mauri hinüber. Er ging noch einmal ihre Bilder durch. Wenn sie noch immer zeichnen würde, würde sie jetzt zeichnen, wie sie da unter den Gewichten lag, und darüber Mauri mit dem Karton in der Hand. Sie stemmte ihn und seine Neugier. Trug alles, ohne dass es zu sehen gewesen wäre. Verlagerte den Schmerz zum Pectoralis major, zum Triceps bracchi. Heben, neun … zehn … elf … zwölf.
Trotzdem will ich ihn hierhaben, dachte sie. Er soll bei mir einen Ruheplatz haben. Darum geht es.
Es war ein anderes Leben, in das Mauri Einblick bekam, wenn er Esters Zeichnungen durchsah. Er fragte sich, was aus ihm geworden wäre, wenn er als ganz kleines Kind dort oben gelandet wäre. Ein Ausflug in ein alternatives Leben.
Die Motive stammten fast alle aus ihrem früheren Zuhause, dem alten Bahnhof in Rensjön. Er zog Bleistiftzeichnungen von der Pflegefamilie hervor. Da war die Mutter, beschäftigt mit Hausarbeit oder ihrer Keramik. Da war der Bruder, der mitten im Sommer an seinem Schneemobil herumbastelte, eine Menge flaumleichter Wiesenblumen rahmten ihn und sein Fahrzeug ein, er trug einen blauen Overall und eine Schirmmütze mit Reklameaufdruck, da war der Pflegevater, der den Rentierzaun auf der anderen Seite der Gleise, hin zum Binnensee, wo die Herde stand, reparierte. Und überall, auf fast jedem Bild, die muskulösen kleinen Lappenhunde mit blankem Fell und geschwungenem Schwanz.
Ester kämpfte damit, die Scheibenhanteln zurück ins Gestell zu wuchten, mit den Armen war sie fertig. Sie würdigte ihn keiner Aufmerksamkeit, schien vergessen zu haben, dass er dort war. Es war schön, eine Weile hier in Ruhe sitzen zu dürfen.
Er blätterte zu den Skizzen von Nasti im Käfig weiter.
»Dieser Hamster gefällt mir«, sagte er.
»Das ist ein Lemming«, korrigierte Ester, ohne hinzusehen.
Mauri betrachtete den Lemming. Den breiten Kopf mit den schwarzen Knopfaugen. Die kleinen Pfoten. Bewusst oder unbewusst hatte Ester sie menschlich gemacht. Es waren kleine runde Hände.
Nasti auf den Hinterbeinen, die Hände um die Gitterstangen gelegt. Nastis Hinterteil, wenn er sich über seinen Fressnapf beugt. Nasti auf dem Rücken im Sägemehl, die Beine in die Luft gestreckt. Kalt und tot. Wie so oft auf Esters Bildern waren jene, die sich außerhalb des Motivs befanden, auch dabei. Ein Schatten. Ein Stück Zeitung vor dem Käfig.
Ester drehte sich auf den Bauch und begann mit dem Rückentraining. Der Vater hatte Nasti mitgebracht. Er hatte ihn im Moor gefunden. Durchnässt und halb tot. Der Vater hatte ihn in die Tasche gesteckt und dieses kleine Leben gerettet. Acht Monate hatte er bei ihnen gelebt. Man kann in sehr viel
Weitere Kostenlose Bücher