Rebecka Martinsson 04 - Bis dein Zorn sich legt
phantastischer Ort.«
Es war halb sechs Uhr abends, als Anna-Maria Mella im Krankenhaus von Kiruna den Obduktionssaal betrat.
»Treibst du dich schon wieder hier rum?«, begrüßte Gerichtsmediziner Lars Pohjanen sie übellaunig.
Sein magerer Körper sah in dem zerknitterten grünen Obduktionskittel wie immer verfroren aus.
Anna-Maria Mellas Laune besserte sich. Hier war jemand, der sich nach wie vor ganz normal mit ihr kabbelte.
»Und ich hatte gedacht, du hast Sehnsucht nach mir«, sagte sie und bedachte ihn mit einem Hundertwattlächeln.
Er lachte zufrieden. Es klang eher wie ein Röcheln.
Wilma Persson lag nackt auf dem rostfreien Obduktionstisch. Pohjanen hatte ihr Taucheranzug und Kleider vom Leib geschnitten. Ihre Haut war grauweiß und aufgeschwemmt. Neben ihr stand ein Aschenbecher mit Pohjanens Kippen. Anna-Maria Mella sagte nichts dazu, sie war weder seine Mutter noch seine Chefin.
»Ich habe eben mit ihrer Urgroßmutter gesprochen«, sagte Anna-Maria. »Ich dachte, du kannst vielleicht etwas darüber sagen, wie der Unfall passiert ist.«
Pohjanen schüttelte den Kopf.
»Ich habe sie noch nicht aufgemacht«, sagte er. »Sie ist übel zugerichtet, wie du siehst. Aber das ist ja erst nach dem Tod passiert.«
Er zeigte auf das Gesicht, in dem Lippen und Nase fehlten.
»Warum liegen ihre Haare auf dem Boden?«, fragte Anna-Maria.
»Die Haarwurzeln faulen im Wasser und lockern sich dann eben sehr leicht.«
Er hob ihre Hände hoch und musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. An der rechten Hand fehlten Daumen und kleiner Finger.
»Aber mir sind ihre Hände aufgefallen«, sagte er und räusperte sich. »Sie hat zwar etliche Nägel eingebüßt, aber nicht alle. Du siehst die rechte Hand, ach, ich muss vorsichtiger sein. Die Haut löst sich so leicht von den Fingern. Siehst du, hier fehlen ja Daumen und kleiner Finger, aber Ring- und Mittelfingernagel sind noch vorhanden. Und wenn du die mit der anderen Hand vergleichst …«
Er hob beide Hände, und Anna-Maria beugte sich widerwillig vor.
»Die Nägel an der linken Hand, die, die sie noch hat, sind schwarz lackiert und gefeilt, sie sind in ziemlich gutem Zustand, nicht wahr? Während Ring- und Mittelfingernagel an der rechten Hand abgebrochen sind und der Lack abgekratzt.«
»Und das bedeutet?«, fragte Anna-Maria.
Pohjanen zuckte mit den Schultern.
»Was weiß ich. Aber ich habe die Unterseite der Nägel abgekratzt. Komm, dann zeig ich es dir.«
Er legte Wilmas Hände vorsichtig ab und ging vor Anna-Maria her zu seinem Arbeitstisch. Dort lagen fünf versiegelte Reagenzgläser, beschriftet mit »rechts Mitte«, »rechts Ring«, »links Daumen«, »links Mitte«, »links Zeige.« In jedem Reagenzglas lag ein flacher hölzerner Zahnstocher.
»Unter beiden Nägeln der rechten Hand saßen grüne Farbreste. Muss ja nichts mit dem Unfall zu tun haben. Sie hatte vielleicht ein Fenster abgekratzt und gestrichen oder sonst was. Die meisten arbeiten doch mit der rechten Hand.«
Anna-Maria nickte und schaute auf die Uhr. Abendessen um sechs, hatte Robert gesagt. Zeit zum Aufbruch.
Eine Viertelstunde darauf hielt Lars Pohjanen abermals Wilma Perssons Hand. Er nahm ihre Fingerabdrücke. Das machte er immer, wenn die Identifizierung durch arge Gesichtsverletzungen erschwert wurde. Die Haut am linken Daumen hatte sich als ganze Fläche von Fleisch und Knochen gelöst, als er sie auf das Papier hatte drücken wollen. Das konnte vorkommen, und er machte dasselbe wie immer, um jetzt ihren Abdruck zu nehmen, er schob seinen eigenen Zeigefinger in die Haut von ihrem Finger und drückte sie auf das Papier. In dem Moment hörte er, dass jemand in die Türöffnung trat. In dem Glauben, es handle sich um Inspektorin Anna-Maria Mella, drehte er sich nicht um, sondern sagte: »Also weißt du, Mella. Jetzt ist Schluss mit der Rumtreiberei. Du kannst den Bericht lesen, wenn er fertig ist. Falls der jemals fertig wird.«
»Verzeihung«, sagte hinter ihm eine Stimme, die nicht Anna-Maria Mella gehörte.
Als er sich umdrehte, stand die Staatsanwältin Rebecka Martinsson vor ihm. Er war ihr schon einmal begegnet, als er bei einer Verhandlung, bei der sie die Anklage vertreten hatte, als Gutachter bestellt worden war. Es war um eine misshandelte Ehefrau gegangen, und die Darstellungen von Mann und Frau über die Umstände, unter denen die Frau sich ihre Verletzungen zugezogen hatte, waren weit voneinander abgewichen. Aber außerhalb des Gerichtssaals hatte er noch nie
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