Rebecka Martinsson 04 - Bis dein Zorn sich legt
zurückzuliegen, dabei ist es über sechzig Jahre her.
Es ist Mai 1943. Kerttu hat den Kopf voller Papilloten und wartet darauf, dass Isak Krekula sie mit seinem Lastwagen abholt. Sie ist sechzehn. Es wird noch viele Jahre dauern, bis sie um ihren im Wald verschwundenen Sohn weinen muss. Isak Krekula ist zweiundzwanzig, besitzt aber schon acht Lastwagen und hat in seinem Fuhrunternehmen eigene Angestellte. Seit vielen Jahren ist er der Held des Ortes. Hat Transporte über die Grenze nach Finnland gebracht, für die deutschen und die finnischen Truppen, im Winterkrieg und im Fortsetzungskrieg.
Er ist voller Abenteuergeschichten in das Dorf zurückgekehrt. Hat in der Küche gesessen und gesagt: »Finnlands Krieg ist unser Krieg«, und hat sich vielleicht ein wenig breitgemacht, das schon, aber die anderen wollten das doch. Sie haben echten Kaffee gekocht und Gebäck zum Stippen hervorgeholt und gelacht, wenn Isak erzählte, wie er mit den finnischen und schwedischen Soldaten Witze gerissen hat, damit die den Mut nicht verloren, er spricht doch beide Sprachen fließend, genau wie alle im Dorf. »Da komm ich also nach Kuusamo. Meine Fresse, die waren vielleicht verfroren, die Jungs. Und ausgehungert. Ich sag: ›Na, friert der Iwan sich den Arsch ab, oder was? Und Perkele, was muss der Iwan jetzt für Kohldampf haben.‹ Und da mussten sie doch lachen. Danach haben wir Essen und Tabak und Waffen abgeladen. Und da waren die Tränen nicht weit, das kann ich euch sagen.«
Und die Leute im Dorf saßen am Radio und hörten sich Frontberichte an, und die Frauen strickten Handschuhe, Pullover und Socken für die Freiwilligen, als ob es ihr Leben gälte. Die Kleidungsstücke haben sie Isak direkt mitgegeben, denn es ist doch ein besonders schönes Gefühl, wenn er nach Hause kommt und erzählen kann, wie die Jungs sich fast um die Pullover geschlagen haben und die Mädels in Isaks Dorf grüßen lassen und sich von ganzem Herzen bedanken. »Und sie wollten wissen, ob ich nächstes Mal nicht ein paar nette unverheiratete Mädchen mitbringen kann.«
Die Freiwilligen wurden in Schweden mit Paraden und Empfängen in Rathäusern und Kirchen begrüßt.
Isak hat die Taschen voll Geld. Verdient gut an den Transporten. Das Fuhrunternehmen wächst. Aber vor dem Winter 1943 missgönnt ihm das niemand.
Nach Stalingrad aber wendet sich das Kriegsglück der Deutschen. Der schwedische Außenminister Günther, der meinte, Schweden solle denselben Weg einschlagen wie Finnland, hat sich geirrt. Schweden wendet sich den Alliierten zu. Finnlands Krieg ist verdammt noch mal nicht unser Krieg. Finnland hat sich zum Lakaien der Deutschen gemacht.
Jetzt werden die Freiwilligen mit Schweigen und abgewandten Gesichtern empfangen. Isak bringt weiter seine Transporte über die Grenze, aber er sitzt daheim im Dorf nicht mehr in den Küchen. Er nimmt Kerttu auf seinen Fahrten im Lastwagen mit. Sie gehen miteinander, seit sie vierzehn war, und sie ist das süßeste Mädchen, das man sich vorstellen kann. Sie klebt vor dem Frisiertisch-Spiegel und drückt sich so oft vor der Arbeit, dass Anni ihr gern eine scheuern würde. Isak kommt fast nie mehr ins Haus, er hält einfach draußen auf der Dorfstraße an. Papa Matti schaut zur Seite und grunzt verärgert, wenn Kerttu sich hastig verabschiedet und hinausstürzt. Er versorgt die Familie mit dem kleinen Bauernhof und mit Fischerei. Spürt die Schande der Armen, wenn die Tochter mit einem neuen Kleid nach Hause kommt, das Isak ihr gekauft hat, oder einem Halstuch oder einem Stück parfümierter Seife. Anni und die Mutter bilden einen farblosen Kontrast zu all dem Schönen. Wenn sie zu Hause besser gestellt wären, wäre Kerttu vielleicht nicht bis über beide Ohren verliebt, aber was soll man machen?
Aber Kerttu geht hocherhobenen Hauptes durch den Ort und achtet nicht darauf, was die Leute sagen. Sie wagen auch nicht, allzu viel zu sagen, denn einige der Männer aus dem Dorf fahren für Isak, und andere bauen eine neue Garage für ihn, und jedenfalls müssen doch alle irgendwie ihr Brot verdienen.
Aber Anni weiß schon, wie geredet wird. Eines Tages, als sie bei einer der Familien im Dorf zu Besuch ist, entdeckt die jüngste Tochter dort durch das Fenster Kerttu. Sie fängt an zu singen: »Der Wind hat mir ein Lied erzählt.« Eine ihrer Schwestern bringt sie sofort zum Verstummen und wirft Anni einen Blick zu, der voller Scham und Trotz zugleich ist. Sie bittet nicht um Entschuldigung. Damit weiß Anni,
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