Rebellen: Roman (German Edition)
im Lager, der Produktionsvorbereitung oder der Montage. Alexander hatte dazu keine Lust. Der Vater bot es ihm mehr als einmal an, aber es war sinnlos. Er wusste instinktiv, es würde enden wie in der Geschichte mit dem Hasen und dem Igel. Wo auch immer er hingekommen wäre, Maximilian wäre schon da gewesen.
Die Pistole gab den Ausschlag. Und so tat er etwas, was Maximilian nie getan hätte. Unmittelbar nachdem er Paul auf der Heimwiese gesehen hatte, lief er dessen Schulweg ab. Er vermutete, dass der Junge in die Karlschule ging, und da das Kepler unterhalb der Karlschule lag, mussten sie jeden Morgen zum Teil den gleichen Schulweg gehen. Manchmal patrouillierte er nach Schulschluss regelrecht die Habsburgerstraße auf und ab in der Hoffnung, den Jungen mit der Pistole zu treffen. Vergebens. Er sah ihn nicht, und er begann die Sache langsam zu vergessen. Irgendwann gab ihm der Religionslehrer unfreiwillig den entscheidenden Hinweis. Er mokierte sich darüber, dass nun auch immer mehr Gymnasiasten die Schulmesse am Mittwoch schwänzten, um dann mit den Heimkindern am Ludwig-Aschoff-Platz herumzustehen und zu rauchen.
Die Schulmesse schwänzen. Keine einfache Sache für Alexander. Vor einem Jahr hatte er noch das weiße Gewand eines Messdieners getragen. Er war ein gläubiges Kind. Mit dem Messeschwänzen riskierte er etwas: Nachbarn konnten ihn sehen und bei den Eltern verraten. Bis zu diesem Tag war er jede Woche zweimal in die Messe gegangen, sonntags mit der Familie ins Hochamt und mittwochs in den Schulgottesdienst; Ausnahmen gab es nur bei Masern und Mumps.
So kam er sich verwegen vor, als er mittwochs um Viertel nach sieben am Ludwig-Aschoff-Platz vorbeischlenderte. Es sollte wie zufällig aussehen, so der Plan. Er wollte einmal auf dem knirschenden Kiesweg durch die kleine Anlage gehen. »Haste mal ’ne Kippe für mich« – diesen Satz hatte Alexander sich zurechtgelegt. Der Aschoff-Platz war nicht sehr groß. In der Mitte standen einige Büsche und zwei grüne Sitzbänke.
Es war kalt an diesem Morgen. Und neblig. Zwischen den Bänken standen sechs Jugendliche, rauchten und unterhielten sich. Er sah Paul sofort. Paul trug die Haare nun etwas länger, sie standen sogar auf den Ohren auf. Neben ihm kicherten zwei Mädchen. Sofort wollte er umkehren. Mädchen waren in seinem Plan nicht vorgesehen. Aber Alexander war schon zu weit auf die Gruppe zugegangen. Umkehren war nicht mehr möglich. Also beschleunigte er seinen Schritt und lief so unbeteiligt wie möglich an der Gruppe vorbei.
»Hey, wart mal.«
Alexander drehte sich langsam um.
»Kennste Tell Me, die neue Platte von den Stones?«
Er schüttelte den Kopf. Sicher, er wusste, wer die Rolling Stones waren, aber er hätte nie gewagt, diese Negermusik zu Hause zu hören, nicht einmal in seinem Zimmer.
»Haste ’nen Plattenspieler?«
Er nickte. In Wirklichkeit besaß er kein eigenes Gerät. Im Wohnzimmer stand eine Truhe, die Radio und Plattenspieler zugleich war. Auf diesem Gerät war aber niemals etwas anderes abgespielt worden als Platten aus Vaters Karajan-Sammlung. Auf der Anrichte im Esszimmer stand jedoch ein kleineres Dual-Gerät, auf dem Mutter manchmal Schlager hörte.
»Du wohnst doch hinter der Wiese? In dem Haus mit dem Swimmingpool und der großen Fensterscheibe?«
Alexander nickte.
Paul zog an der Zigarette und trat sie aus.
Da sagte eines der beiden Mädchen zu ihm: »Willste uns dem nicht mal vorstellen?«
Paul sah Alexander an, als sei das eine Zumutung. Er verdrehte die Augen und sagte: »Das sind Karin und Rosie.« Er zeigte mit dem Daumen auf die beiden Mädchen.
Es war für Alexander unmöglich, aus dieser verschnodderten Handbewegung herauszufinden, welches der beiden Mädchen Karin und welches Rosie war.
»Guten Tag«, sagte die Kräftigere der beiden und lächelte.
Er merkte, wie er knallrot anlief. Schnell drehte er sich zur Seite.
»Wenn du morgen Nachmittag um vier mit dem Plattenspieler vorbeikommst, kannste die neue Stones-Platte hören.«
Die beiden Mädchen sahen ihn neugierig an.
Sie gefielen ihm. Alexander drehte sich um und rieb sich die Backen, als sei ihm kalt. »O. k. Mal sehn. Vielleicht komme ich.«
»Gut, um vier am Eingang vor der Heimwiese. Weißte wo?«
Alexander nickte und ging weiter.
Am Nachmittag lag er seiner Mutter so lange in den Ohren, bis sie nachgab. Er durfte den Plattenspieler mitnehmen. Er hatte sie angelogen und ihr gesagt, dass er zu einem Freund in die Stadt wollte. Aber er
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