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Rebellen: Roman (German Edition)

Rebellen: Roman (German Edition)

Titel: Rebellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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musste versprechen, dass das Gerät am Abend, wenn der Vater nach Hause kam, wieder an seinem Platz stand.
    Alle Ehrenwörter dieser Welt.

15. Paul
    Paul setzte sich nachmittags Fräulein Wackenhut gegenüber auf einen Stuhl im Wohnzimmer der Gruppe. »Ich bekomme morgen Besuch«, sagte er.
    »Aha.«
    »Von einem Freund. Von außen. Wir wollen Musik hören.«
    Dies war nun schlichtweg eine Sensation. Kaum einer der dreihundert Heimzöglinge hatte Freunde von außerhalb. Den Umgang mit den Waisenhauskindern mied man in der Stadt. Auch innerhalb des Heimes wurde diese Grenze gezogen. »Heimweiber« nannten die Jungs verächtlich die Mädchen aus dem Heim. Mit »so einer« wollte man nicht gehen. Umgekehrt nannten die Mädchen aus dem Eisenbahn-Waisenhort die Jungs »Heimkerle«. Sie hatten bestenfalls ein Naserümpfen für sie übrig.
    Fräulein Wackenhut sah ihn an. »Von außerhalb? Wer soll das denn sein? Dein Waffenhändler?«
    Paul trug seinen Triumph mit einem völlig kontrollierten Pokerface vor. »Nein, der Junge, der auf der anderen Seite der Heimwiese wohnt.«
    »Er ist herzlich eingeladen.«
    »Es gibt ein Problem.«
    »Welches?«
    »Mein Stubenarrest. Ich kann ihn noch nicht einmal von der Pforte an der Haydnstraße abholen.«

    Sie sah ihn nachdenklich an. »Du hältst dich für einen schlauen Kerl, was?«
    »Ich sag nur, wie’s is.«
    Sie überlegte: »Gut, für morgen ist der Stubenarrest aufgehoben. Du darfst bis zur Pforte.«
    »Und wenn mein Freund übermorgen wiederkommt?«
    »Dann werden wir sehen.«
    »Danke.«
    Er stand auf und ging.

16. Alexander
    Alexander stand vor der grün gestrichenen Hinterpforte des Waisenhauses und wäre am liebsten umgekehrt. Er hatte nur eine Straße überquert, und doch fürchtete er sich vor der unbekannten Welt, die ihn nun erwartete. Eine gefährliche Welt, in der ein gleichaltriger Junge eine Pistole besaß, eine Welt, die ihn anzog, weil sie ein Versprechen barg, und die ihn gleichzeitig abstieß, weil sie so fremd und unsicher und der Umgang mit ihr verboten war.
    Er umfasste den Plattenspieler seiner Eltern mit beiden Armen. Auf der Straße rutschte ihm zweimal das Stromkabel aus der Hand und schleifte den Boden entlang. Gleichzeitig musste er die beiden Lautsprecherboxen balancieren, weil sie auf der glatten Plastikabdeckung hin und her rutschten.
    Paul öffnete die Tür, und die beiden Jungs musterten sich.
    Alexander sah einen schmal gewachsenen Jungen in einer verwaschenen grünen Cordhose und einem braunen Schlabberpullover. Der Stoff der Hose war an den Oberschenkeln und an einem Knie abgeschabt und sendete so das beunruhigende Warnsignal der Armut aus. Gleichzeitig saß diese Hose so eng, dass sie besonders und außergewöhnlich, ja: lässig aussah. Das Gleiche galt für den Pullover, aus dem einige kurze Fäden hingen und der völlig verfilzt war. Seine Mutter würde so einen Pullover sofort in den Müll werfen, doch dieser schlabberte an Paul herunter,war zwei, vielleicht sogar drei Nummern zu groß, und das war irgendwie interessant.
    Am aufregendsten jedoch waren Pauls Haare, die bereits über die Ohren wuchsen, den Kragen des Pullovers überwunden hatten und in einer Art Pony ins Gesicht hingen: Die ganze Stirn war bedeckt. Paul trug eine Brille, ein gewöhnliches Kassengestell, billig, robust, einfach. Er hatte einen seltsamen Blick: die braunen Augen nur halb offen und doch direkt. Ungeniert musterte er Alexander unter langen, ja mädchenhaft wirkenden Wimpern, die Kopfhaltung dabei eher zögerlich, so als wisse er noch nicht, ob er Alexander wirklich in das Waisenhaus lassen solle. Die halb geschlossenen Augen des Waisenjungen wirkten aber auch verschlagen; Alexander nahm sich vor, vorsichtig zu sein.
    Was sah dieser Paul, der ihn in dieser merkwürdigen Mischung aus Offenheit und Misstrauen anschaute? Sie waren beide ungefähr gleich groß, aber Alexander war deutlich athletischer gewachsen, blond, die Haare sauber und kurz geschnitten, das Gesicht wach mit auffallend großen, blauen Augen, die im Moment verlegen wirkten, Paul aber an den klugen Fuchs aus irgendeiner Kindergeschichte denken ließen. Alexander hielt den Dual-Plattenspieler verkrampft vor seinen Bauch, aber Paul konnte doch die Stoffhose mit der Bügelfalte und das steife blaue Hemd mit Schulterklappen erkennen, das ihn daran erinnerte, dass dieser Junge von der anderen Straßenseite kam, einem Haus mit Mama und Papa, mit Vorlesen am Abend und Frühstücken mit der ganzen

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