Rebellen: Roman (German Edition)
Familie am Morgen, aus einer Welt ohne Gewalt, in der jemand wie Moppel keinen Zutritt hatte.
Erst im Rückblick verstand Alexander, was sie beide in diesem Moment wohl nur instinktiv erfassten: Es standen sich zwei Jungs gegenüber, die unterschiedlicher nicht seinkonnten, Klassenbester am Kepler-Gymnasium der eine, ein mittelmäßiger Schüler in der 7. Klasse der Hauptschule in der Karlstraße der andere, Denker und Träumer, reich und arm, sportlich und träge. Jeder von ihnen erkannte in diesen ersten Blicken die offensichtlichen Unterschiede, und doch ahnten sie bereits, dass etwas Gemeinsames in ihnen steckte, beide waren sie Suchende, und bereits bei dieser ersten Begegnung hegte jeder von ihnen den Verdacht, dass der andere im Überfluss besaß, was der eine schmerzhaft vermisste.
»Komm rein!«
Zum ersten Mal betrat Alexander den großen, mit mannshohen Hecken eingefassten Innenhof. Die grüne Tür schlug hinter ihm zu, und er sah sich nun dem markanten Turm gegenüber. Dazwischen eine von zwei Baumreihen gefasste Allee.
Er hörte ein Kichern. Links unter einem Baum standen Karin und Rosie. Sie winkten.
»Kommen die auch mit?«
Paul grinste und deutete auf die Tür in der Mitte des Turms. Dort stand eine Frau.
»Das ist der Drache vom Dienst. Wacht über die Linie.«
»Welche Linie?«
»Die haben die sich nur ausgedacht. Verläuft genau in der Mitte. Dort ist die Mädchenseite. Verboten für uns. Hier ist unsere Seite. Verboten für die.«
»Mmh.«
»Komm«, sagte Paul und nahm ihm die beiden Boxen ab. »Außerdem stehe ich nicht auf Heimweiber.«
Sie überquerten den Fußballplatz, auf dem einige Jungen bolzten, und traten dann unter eine Arkade, die etwas Düsteres ausstrahlte; etwas Bedrückendes hing in der Luft, das Alexander das Atmen schwer machte. Paul führte ihn in das Treppenhaus mit der großen Steintreppe, und sie gingenzwei Stockwerke nach oben. Eine Tür mit einer Milchglasscheibe führte in einen langen Flur, von dort leitete Paul ihn in einen größeren Raum, in dem einige Tische, Stühle und ein Kicker standen. Sie waren allein.
Alexander stellte den Plattenspieler auf den Tisch, der direkt neben dem Fenster stand, steckte den Stecker in die Steckdose und baute die Boxen auf.
Paul öffnete einen Spind und zog einige Singleplatten hervor. »Stones«, sagte er, »sind die besten.« Er legte eine Single auf den Plattenteller und griff nach dem Tonarm.
»Lass mich das lieber machen«, sagte Alexander schnell und hob den Tonarm hoch und die Nadel auf die erste Tonrille.
Paul zuckte mit den Schultern und setzte sich.
Ein Gitarrenintro, ein Schlag auf eine Trommel, dann die Stimme.
Ah, I want you back again
Ah, I want your love again
Es war der Hammer! Die Musik traf Alexander, als habe er seit Langem genau darauf gewartet. Vier Minuten dauerte der Song, und in diesen vier Minuten rührte er sich nicht. Irgendetwas geriet in Bewegung. Zum ersten Mal gehört, und doch vertraut. Was war es? Der Rhythmus? Die Stimme? Empfand Mick Jagger genau die gleiche Sehnsucht, die ihn auch quälte? Er wusste es nicht. Aber eines war klar: Diese Band hatte gefunden, wonach er erst suchte – den Weg nach draußen. Vielleicht würde sie ihm den Weg weisen. Er schloss die Augen.
Paul saß ihm gegenüber und starrte ihn durch halb geschlossene Lider an. Ein merkwürdiger Vogel war ihm da zugeflogen, das wusste er, aber was sollte er mit ihm anstellen? Die Stones gefielen ihm, das immerhin sprach für ihn. Aber sonst? Das steif gebügelte Hemd, die Sonntagshose, die eleganten Schuhe, all das sagte ihm, dass Alexander aus einer Welt stammte, die ihn verstoßen hatte und die auch nicht daran dachte, ihn in absehbarer Zeit wieder aufzunehmen. Eine Welt, in der es eine Mutter gab, die täglich da war. Paul stellte sich Alexanders Leben vor und verachtete es.
Und sehnte sich danach.
Als der Song zu Ende war, stand Paul auf, drehte die Scheibe um. Diesmal setzte er den Tonarm auf die Platte. Come on. Rock ’n’ Roll. Schneller.
»Wer spielt die Mundharmonika?«
»Brian Jones.«
»Mmh.«
Nach einer Weile kamen ein paar weitere Jungs dazu. Sie setzten sich an die anderen Tisch und hörten zu. Paul redete nicht mit ihnen und sie nicht mit ihm.
Plötzlich schoss ein unglaublich fetter Junge ins Zimmer. Alexander fand ihn hässlich und uninteressant. Diese Art dummer Wichtigtuer, die in seiner Klasse keine Chance hatte.
»Was ist denn hier los? Wer ist das?« Der fette Junge zeigte auf
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