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Rebellen: Roman (German Edition)

Rebellen: Roman (German Edition)

Titel: Rebellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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von einer Art Matriarchat der Mutter und ihrer vier Schwestern erzogen. Sie liebten dieses Kind, verwöhnten es, drückten es, herzten es, von ihnen lernte Paul die wortlose Sprache der Liebe, die er, weiß Gott, so gut beherrschte, die Geste, die Zuwendung, all das Körperliche, das die Liebe so süß macht und ohne das sie nicht so recht gelingen will. Aber er lernte nicht, was mir bei unserer ersten Begegnung so wichtig war: über Gefühle zu reden. Dazu fehlte ihm im wahrsten Sinn das Vokabular. Paul drückte seine Empfindungen mit dem Körper aus, das konnte er. Aber ich, ich wollte mit ihm über unsere Liebe reden. Auf mein Liebesgestammel wusste er nichts zu sagen. Sehr viel später gestand Paul mir in einer lauen Nacht in Paris, dass er das Reden über die Liebe gelernt habe wie eine Fremdsprache.
    Vielleicht war es für sie unerträglich, dass der Sohn die Schule schwänzte und auf der sozialen Stufenleiter nochtiefer abzurutschen drohte. Ich weiß es nicht. Ihre Erziehungsmaxime war: Mit dem Hut in der Hand kommst du durchs ganze Land. Kein Wunder, dass ihr Sohn Revolutionär wurde. Und trotzdem: Einige ihrer wenigen Richtlinien befolgte Paul tatsächlich sein Leben lang. Wenn ich mit ihm irgendwo unterwegs war, ging er immer auf der Straßenseite. Paul hielt mir immer die Tür auf, half mir in den Mantel, selbst in den törichten Zeiten, als wir dies als patriarchalische Überlegenheitsgeste ablehnten.
    All das hatte Pauls Mutter ihm gut antrainiert. Ihre Liebe war an Bedingungen geknüpft. Ich liebe dich besonders, wenn du artig bist, wenn du brav Guten Tag sagst, wenn deine Schuhe glänzen, wenn die Hose sauber ist, wenn du dies machst oder das. Wahrscheinlich begriff Paul schon als Kind: Liebe hat ihren Preis. Wenn später eine Frau zu ihm sagte Ich liebe dich, dann hörte er: Ich will etwas von dir.

53. Toni
    Ich hatte Paul verlassen. Es war, wie gesagt, kalter Entzug.
    Alexander kümmerte sich um mich. Mit ihm konnte ich reden. Über alles. Er wusste unglaublich viel. Kant, Hegel, Marx, dass es am Kaiserstuhl Gottesanbeterinnen gibt und Auerhähne am Feldberg, er interessierte sich für mein Studium und las Freud, Adler, C. G. Jung, sogar den Raubdruck »Die Funktion des Orgasmus« von Wilhelm Reich, der damals von Hand zu Hand ging. Er half mir, aber die Grundtraurigkeit dieser Zeit konnte er mir nicht nehmen.
    Ich wartete auf ein Zeichen von Paul, aber dieser Bastard meldete sich nicht.
    Nicht ein einziges Mal!
    Irgendwann konnte ich sagen: dann eben nicht, und Alexander mit zu mir nehmen. Und es war schön. Alexander ist ein zärtlicher Liebhaber. Er hat schmale, weiche Hände, mit denen er, nun ja, zaubern kann. Er ist rücksichtsvoll, kümmert sich um meinen Orgasmus – und er war verliebt in mich über beide Ohren.
    Und das ist er heute noch.
    Langsam vergaß ich Paul.
    Fast.
    Alexander trat dem maoistischen Klub bei. Paul auch. Ich wunderte mich, warum die beiden weichsten Männer, die ich kannte, so harte Ideologien wählten. Typische psychologische Fragestellung. Aber mit Alexander war darüber nicht zu reden. Und Paul redete nicht mit mir.
    Manchmal ging ich tagsüber an Pauls Wohnung in der Hildastraße vorbei, wenn ich sicher war, dass er arbeitete, und fasste kurz den Schlüssel hinter der Regenrinne an. Und lief dann schnell weiter.
    Dann kam der 1. Mai.
    Der Bund Kommunistischer Arbeiter, BKA , organisierte eine große Demonstration. Es waren viele Leute für die damaligen Verhältnisse; zwei- oder dreitausend. Sie zogen mit riesigen roten Fahnen und Transparenten durch Haslach und den Stühlinger. Eine Gruppe von Frauen, die sich Weiberrat oder so ähnlich nannte, hatten mich eingeladen, in ihrem Frauenblock mitzulaufen. Wir waren etwa zehn Frauen, riefen lustige Parolen, und einige beschlossen, auf der Kundgebung eine Rede über Frauenrechte zu halten, einen Text von Margarete Mitscherlich zu verlesen, soweit ich mich erinnere.
    Wir kämpften uns lärmend durch die Reihen der Demonstranten nach vorne zu dem Lkw, auf dem die Tonanlage aufgebaut war. Doch plötzlich schob sich eine Reihe finster blickender BKA -Genossen vor den Lkw. Sie ließen uns nicht durch. Einer von ihnen war Paul. Wir lärmten und schimpften – aber es war nichts zu machen. Wie Bodyguards umringten sie ihr heiliges Mikro.
    Weiß der Teufel, was mich geritten hat – ich stellte mich vor Paul auf, der mich mit steinerner Miene betrachtete, und flüsterte ihm ins Ohr: »Wenn du uns jetzt nicht vorbeilässt,

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