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Rebellen: Roman (German Edition)

Rebellen: Roman (German Edition)

Titel: Rebellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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dieses Gefühl blieb, bis sie sich wieder verabschiedeten. Toni begleitete Alexander bis zur Dreisam und sagte, sie wolle jetzt alleine nach Hause gehen. Und weg war sie.
    »Deine Toni ist ja ’ne Wahnsinnsfrau«, sagte Paul drei Tage später zu ihm. »Zehn Minuten nachdem ihr gegangen wart, klingelte sie wieder bei mir. Sie wollte in der Nacht nicht allein in ihrem Zimmer frieren …«
    »Aber du hast mir doch versprochen …«
    »Alexander, jetzt ehrlich, was hätte ich machen sollen?«
    Es war eine fürchterliche Zeit. Er stürzte sich in die politische Arbeit und dachte doch nur an sie. Er legte eine Strichliste an, für jeden Gedanken an Toni einen Strich, dahinter die Uhrzeit. Das Ergebnis war eindeutig: Es vergingen keine zehn Minuten, in denen er nicht mindestens einmal an sie dachte. Er trank. Er wachte jeden Morgen um vier Uhr auf. Und der erste Gedanke war, dass sie jetzt in diesem widerlichen Bett mit Paul lag. Es ging lange so, sehr lange, unendlich lange. Dann kam sie zu ihm.

    Alexander Helmholtz hatte nicht auf den Weg geachtet. Er sah auf die Uhr. 16.45 Uhr. In einer Viertelstunde traf er Jonas. Er blieb stehen und reckte sich.
    Toni war bei ihm geblieben. Sie war seine Frau geworden. Sie war das Beste in seinem Leben. Und er würde dieses Leben verteidigen.

55. Toni
    Sie werden sterben.
    Ich weiß es, ich sehe es ihnen an, ich rieche es, wenn sie mir zum ersten Mal gegenübersitzen. Sie wissen es noch nicht, aber ich weiß es. Sie kommen viel zu spät zu mir. Es sind die härtesten Fälle. Ihre Familie hat die Krankheit übersehen, ignoriert oder für eine vorübergehende Jugendmode gehalten, die Freundinnen sagen, ihnen sei nichts Extremes aufgefallen. Und jedes Mal nehme ich den Kampf auf, auch wenn ich ihn oft verliere. Und ich kämpfe mit dem Mut einer Löwin, als wären es meine eigenen Jungen.
    Jedes Mal.
    Von fünf Mädchen, die meine Praxis betreten, sterben zwei. Zwei andere werden bis zu ihrem Lebensende mit dieser Krankheit kämpfen, verstümmelt und verletzt. Eine von fünf kann ich heilen.
    Eine von fünf!
    Diese Krankheit beleidigt mich. Sie demütigt mich in meinem tiefsten Inneren. Nichts, wirklich nichts, raubt mir so sehr die Fassung, stellt alles, was ich bin und wofür ich mich eingesetzt habe, so grundsätzlich infrage wie dieser Fluch, der die jungen Mädchen – und immer öfter auch junge Männer – heimsucht wie die Pest.
    Ich kann niemandem erklären, wie sehr ich an dieser Krankheit verzweifele. Alexander hält meinen Kampf dagegenohnehin für eine Überspanntheit. Doch wenn ich je für etwas gekämpft habe in meinem Leben, dann für die Gleichheit der Geschlechter, für die freie und selbstbestimmte Teilhabe der Frauen am öffentlichen und privaten Leben.
    Ich bin nicht radikal, ich bin nie Alexanders oder Pauls Umsturzplänen in deren jungen Jahren gefolgt, aber ich kann die Augen nicht verschließen vor der Dressur des weiblichen Körpers und dem Kontrollwahn, der ihm aus allen Medien ungedämpft entgegenschlägt.
    Die Dressur erfolgt öffentlich und zur besten Sendezeit. In Germany’s Next Topmodel sehe ich mit angehaltenem Atem, wie junge, lebendige Frauen danach bewertet werden, wie gekonnt sie ihr Aussehen, ihren Körper, ihre Bewegungen, ihre Seele den Vermarktungswünschen der Modeindustrie anpassen. Wer diese Anpassungsarbeit nicht schnell genug, nicht gekonnt genug, nicht glaubwürdig genug schafft – fliegt raus. Diese Sendung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und doch ist sie beispielhaft für unsere Gesellschaft und stilprägend für ein oder zwei Generationen junger Frauen.
    Die Gnadenlosigkeit, die dem weiblichen Körper entgegenschlägt, die Bösartigkeit, mit der er bewertet und juriert wird, knüppelt in unsere Köpfe die Überzeugung, dass unsere Körper nie schön genug, nie jung genug, nie schlank genug, nie sexy genug sind. Jedermann kommentiert unseren Körper: Mütter und vor allem Väter, Freunde und vor allem Liebhaber, Freundinnen und selbst flüchtige Bekannte loben uns, wenn wir abgenommen haben. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht mit diesen offenen oder versteckten Botschaften angegriffen werden: Dünn sein. Perfekt sein. Und so arbeiten wir vergeblich wie Hamster in einem Laufrad bestenfalls an der Milderung unserer Unvollkommenheit. Wir hetzen in Sportstudios, wir rennen durch Wälder und um Seen, nicht nur, weil wir uns dann besser fühlen, sondern weil wir einem unerreichbaren Ideal nacheifern, das wie ein Brandzeichen

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