Rebellen: Roman (German Edition)
bisschen wir Kafka.
»Paul, wer ist denn diese Freundin? Die kenne ich noch gar nicht.«
Paul setzte sich neben uns, warf einen Blick in das Album und erklärte, das sei nicht er, das sei sein Vater. Die Frau neben ihm sei keine Freundin, sondern »sie«, er deutete auf seine Mutter. Frau Becker sah auf das Foto ihres verstorbenen Mannes, lächelte innig und verwandelte sich vor meinen Augen für einen Moment in das junge Mädchen auf dem Bild, dann blickte sie zu ihrem Sohn, diesem Ebenbild ihres Mannes – mit dem gleichen Lächeln. Es war so ein kurzer intimer Augenblick der Erkenntnis, in dem die Zeit den Atem anhält – bis Paul es nicht mehr aushielt, aufstand und die leeren Tassen in die Küche trug.
Diese Frau liebte ihren Sohn. Eindeutig. Er musste sie wohl jeden Tag an den Mann erinnern, den sie geliebt und so früh verloren hatte. Warum hatte sie Paul ins Waisenhaus geschickt? Eben deshalb? Jede vorsichtige Frage, die in diese Richtung zielte, überhörte sie. Das Thema ist tabu, das hatte Paul mir schon auf der Hinfahrt gesagt; er wisse bis heute nicht, warum er nach Freiburg musste.
Wir unterhielten uns lange an diesem Nachmittag. Frau Becker war die jüngste von fünf Töchtern eines örtlichen Brauereibesitzers, der zudem noch das große Hotel am Obersteiner Bahnhof besaß. Ein reicher Mann. Auf den Fotos, die sie mir zeigte, blickte mir ein stolzer, vielleicht sogar herrischer Mann entgegen, gekleidet in den groben Stoff eines Mannes, der es gewohnt war, mit den Händen zu arbeiten. Die Ehe ihrer Eltern, das schloss ich aus ihrer Erzählung, war imKern die Fusion zweier lokaler Brauereien, einer aus Meisenheim, die kleinere, die dem Vater ihres Vaters gehörte, und der größeren, die zusammen mit dem Hotel am Bahnhof den Eltern ihrer Mutter gehörte und nach der Heirat in die Verfügung ihres Mannes überging. Die Ehe war nicht glücklich, der Vater nicht treu, seine Geliebte, eine Hotelangestellte, lebte unter dem gleichen Dach wie die Familie. Wie merkwürdig, dass plötzlich Tränen in den Augen von Pauls Mutter standen und ihre Stimme jünger wurde.
Pauls Großvater, so würde man heute sagen, hatte falsch investiert. Noch vor dem Krieg hatte er die Idee verfolgt, in Idar-Oberstein eine Art alpenländisches Kurhotel aufzumachen – ein Milch-Kurort. Eine merkwürdige Geschäftsidee, für einen Brauereibesitzer, meine ich. Auf einem der vielen Hänge baute er ein Orginal-Schweizerhaus, das heute noch dort steht, kaufte Kühe – und machte Pleite. Das Hotel am Bahnhof wurde im Krieg durch amerikanische Bomber in Schutt und Asche gelegt, und den fünf Töchtern blieb nichts als Armut.
Und dann kam dieser gut aussehende Mann aus dem Krieg zurück – Pauls Vater, und Pauls Mutter hatte plötzlich Hoffnung und eine neue Perspektive. Sie heirateten. Frau Becker stand auf, ging zum Wandschrank und holte ein Etui hervor, aus dem sie ein Paar Ohrringe mit zwei wunderschön geschliffenen Rubinen hervorzog. Das Hochzeitsgeschenk ihres Mannes. Doch dann wankte dieser Mann beim Gehen, konnte nicht mehr richtig geradeaus laufen, und die Nachbarn lästerten: »Der Becker ist schon am hellen Tag besoffen.« Und ihr Mann sagte ihr: »Komisch, ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.«
Sie erzählte mir, wie sie hochschwanger nach Mainz in die Uniklinik fuhr, um die Ergebnisse der Untersuchung zu erfahren. Sie stand am Fuße einer Treppe, müde und erschöpft, stützte sich mit der Hand an dem Geländer ab, alsoben eine Tür aufging und der behandelnde Professor aus der Tür heraustrat, auf seine Notizen sah, ihr von der Treppe herab verkündete, ihr Mann sei unheilbar an Multipler Sklerose erkrankt, die Lebenserwartung betrage höchstens noch sechs Jahre, die Krankheit verlaufe in Schüben, die jeweils die Lähmung einzelner Muskeln und Muskelpartien zur Folge hätten, zum Schluss würde er ersticken. Dann drehte der Arzt sich um und ging zurück in sein Büro, schloss die Tür, und die Frau am unteren Ende der Treppe rang nach Luft, die Knie gaben nach und in ihrem Bauch rebellierte Paul, strampelte und trat nach ihr, als wolle er sie hier und sofort verlassen.
Der Professor hatte in allem recht. Die Krankheit verlief genau so, wie er es vorhergesagt hatte. Nach und nach lähmte sie jeden Muskel seines Körpers, zuletzt das Zwerchfell, und er erstickte. Mit sechs Jahren war Paul Halbwaise.
Während der Krankheit seines Vaters und bis er mit zehn Jahren in den Waisenhort geschickt wurde, wurde Paul
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