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Rebellen: Roman (German Edition)

Rebellen: Roman (German Edition)

Titel: Rebellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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in die weiblichen Hirne geätzt wird: Dünn sein. Perfekt sein.
    Es ist absurd: Schauspielerinnen und Models, von denen wir wissen, dass sie hungern, bis ihre Libido abstirbt, liefern die Rollenmodelle der erotischen und sozialen Selbstinszenierungen unserer Töchter und, wenn wir ehrlich sind, auch von uns selbst.
    Und so hungern wir. Wir hungern inmitten des Überflusses. Wir verachten unseren nie vollkommenen Körper und züchtigen ihn mit Nahrungsentzug. Wir glauben, die Kontrolle über den Körper auszuüben, und werden in Wirklichkeit einer bestialischen Kontrolle von außen unterworfen.
    Wir hungern uns schmal und klein – in jeder Hinsicht. Und viele hungern sich buchstäblich aus der Welt hinaus.
    »Dünnsein zu propagieren«, schrieb eine kluge Frau, »ist die ideale Methode, starke Frauen zu kontrollieren.«
    Jeden Tag, wenn ich meine helle und freundliche Praxis betrete, kämpfe ich um das Leben der jungen Frauen. Aber es werden immer mehr. Sie werden von Jahr zu Jahr jünger.
    Manchmal denke ich, es ist aussichtslos.
    Aber ich gehe auch deshalb jeden Tag in den Therapieraum, weil ich in meinem beruflichen Bereich erreichen will, dass sich die Dinge ändern. Dass die Mädchen überleben. Dass sie gesund werden.
    Paul würde sagen, dass ich einen vergeblichen Kampf führe. Er würde sagen, dass erst die grundsätzlichen Machtverhältnisse geändert werden müssen, bevor die Frauen, die Arbeiter und wer weiß ich noch frei sein können.
    Alexander sagt, die Mädchen seien selbst schuld, wenn sie so dämlich sind und sich zu Tode hungern. Es sei nicht meine Angelegenheit, und seine schon gar nicht.
    Aber ich sage, dass ich in meinem unmittelbaren persönlichen und beruflichen Umfeld Verantwortung trage. Vielleicht kann ich nicht viel erreichen. Vielleicht aber heile ich eine der jungen Frauen.
    Eine von fünf.
    Es ist mein Weg.
    Aber manchmal bin ich schrecklich müde.
    Und allein.

56. Toni
    In meinem Therapieraum habe ich an der Tür einen körperhohen Spiegel festgeschraubt. Er ist mit einem Vorhang verdeckt. Jetzt habe ich den Vorhang weggezogen und stehe mit Maria, einer fünfzehnjährigen Patientin, vor diesem Spiegel. Maria trägt nur einen Slip. Sie wiegt 35 Kilo, ihr Knochengerüst tritt klar hervor, ist kaum noch von Muskeln bedeckt, die Rippen sehen aus, als wollten sie aus dem Körper ausbrechen, die Hüftknochen stechen heraus, die Schultergelenke sind sichtbar. Sie ist hässlich wie eine Vogelscheuche.
    Und akut vom Hungertod bedroht.
    »Was siehst du, Maria? Was siehst du, wenn du dich im Spiegel betrachtest?«
    Sie dreht sich gekonnt wie ein Mannequin nach rechts und links – was jedoch bei einem lebenden Skelett so makaber aussieht wie in einem Zombiefilm –, sie betrachtet sich mit einem langen nachdenklichen Blick und sagt: »Sieht o. k. aus. Nur der Arsch ist zu fett.«
    Sie wird weiter hungern.
    Die Magersucht könnte die absolute Kontrolle über die jugendlichen Körper nicht übernehmen, wenn sie nicht gleichzeitig die Wahrnehmungsfähigkeit der Mädchen zerstören würde. Ihnen Schritt für Schritt das Gefühl für ihren Körper wieder zu vermitteln, ist eine schwere Aufgabe.
    Diese Aufgabe wird dadurch erschwert, dass sich kaum einePatientin behandeln lassen will. Hannah, die nun auf einem guten Weg ist, beschrieb es so: Sie höre immer zwei Stimmen in sich. Die erste sagt: Ich sehe es ein, ich muss essen, das stimmt ja alles. Die andere Stimme sagt: Aber ich sag’s nur, weil die Therapeutin es hören will. Essen ist Verschmutzung. Es ist Sünde. Iss auf keinen Fall. Nimm Abführmittel, das ist Reinigung.
    Hannah konnte zwischen den beiden Stimmen keine eigene Position entwickeln. Die erste Stimme zu stärken – wir brauchten zwei Jahre harte Arbeit dazu. Es war ein unerbittlicher Kampf. Und er wurde mit allen Mitteln ausgetragen. Hannah schob sich Steine in die Vagina, um ein höheres Gewicht und damit einen Erfolg der Therapie vorzutäuschen. Wie die meisten Magersüchtigen war sie intellektuell überreif, und ihre Fähigkeit, Eltern, Lehrer und Therapeuten um den Finger zu wickeln, stand in schroffer Diskrepanz zu ihrem kindlichen Aussehen.
    Es beginnt immer mit einer Diät.
    Hannah war nicht dick. Aber sie wollte schlank sein. Sie dachte, wenn alle abnehmen, nur ich nicht, ist was nicht in Ordnung mit mir. Die Diät wird in der Regel von der Umwelt positiv aufgenommen, und dann erwischen die Mädchen den Punkt nicht mehr, wo sie aufhören müssten. Und dann beginnen sie oft

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