Rebellen: Roman (German Edition)
führende Rolle der Arbeiterklasse sich im Bett anfühlte. Aber ich dachte, wir zwei, das wäre etwas Besonderes, etwas Einmaliges. Das dachte ich wirklich. Weil es für mich einmalig und besonders war. Doch plötzlich ahnte ich: Für ihn ist das alltäglich. Paul hat das Gleiche mit Sandra, Renate, Uta und wie sie alle heißen. Für ihn ist normal, was für mich erhebend ist. Ich bin nur eine, die kaum auffällt, weil noch soviele andere Schlange stehen. Eine, für die er bestenfalls ein bedauerndes Schulterzucken übrighat, wenn sie sich nicht mehr in sein breites, himmlisches Bett legt. Es ist ein fürchterliches Gefühl, plötzlich zu bemerken, dass man sich in seiner intimsten Wahrnehmung getäuscht hat. Ich habe geheult wie noch nie zuvor.
Es war, als hätte er mir einen Eimer kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet. Ich wurde blitzartig nüchtern. Das dachte ich wenigstens.
Ich wollte mit ihm reden. Über uns. Über mich. Aber er redete nicht. Sobald unsere Körper miteinander sprachen, war alles gut. Aber sobald ich ein Gespräch mit ihm führen wollte, wurde es ein Fiasko.
Ich hatte keine Ahnung. Deshalb verließ ich ihn, damals. Ich bin daran fast gestorben. Kalter Entzug, die harte Tour. Ohne Alexander hätte ich diese Zeit wohl nicht überlebt.
Heute weiß ich, dass es anders war. Komplizierter. Ich habe lange gebraucht, um Paul zu verstehen. Und so habe ich, allerdings einige Jahre später, Paul-Feldforschung betrieben, um schließlich eine Paul-Theorie zu entwerfen. Eine Theorie kann nur, wie ein Film oder ein Roman, einen kleinen Ausschnitt des wirklichen Lebens darstellen. Aber wenn der Ausschnitt richtig gewählt ist, kann er uns viel, vielleicht sogar alles über das Ganze erzählen.
Ich wusste, dass Paul seine Jugend in einem Waisenhaus verbracht hatte. Aber er hat nie darüber gesprochen. Bis heute weiß ich nichts über seine Erlebnisse dort. Sie waren vermutlich nicht besonders schön. Aber wir haben damals alle nicht über unsere Wurzeln, unsere Eltern, unsere Geschwister, unsere Familien gesprochen. Es war unwichtig. Es hat uns nicht interessiert. Unser Blick ging nach vorne. Auch Pauls Energie war in die Zukunft gerichtet, auf die großen gesellschaftlichen Umstürze, die alles besser machen würden. Er hatte weder Kraft noch Zeit zurückzusehen.
Aber ich wollte es wissen. Ich wollte wissen, wo er herkam, wie er wurde, was er war. Immerhin bin ich Psychologin. Und er war, das darf ich wohl so sagen, eine große Liebe meines Lebens. Also lag ich ihm in den Ohren, dass er mich mitnahm zu seiner Mutter, in diesen kleinen Ort am Rande der Pfalz.
Eine hügelige Landschaft, die mich an den Westerwald erinnerte und Heimaterinnerungen in mir auslöste, karg, windig, viel Regen, es wachsen hier eher Kartoffeln als Weizen. Es gibt einen Fluss, der sich damals noch romantisch durch den Ort schlängelte – heute ist er überbaut, und Autos rasen über ihn hinweg. Ich sah unzählige dampfende Kleinbetriebe, ratternde Maschinen in jedem unteren Stockwerk. Es wurde gestanzt, gepresst und geschweißt; Eloxalschmuck, Metallketten, Beschläge wurden hier hergestellt. Die Edelsteine und Diamanten kamen aus einem anderen Stadtteil, dort waren die Diamantschleifereien, die Edelsteinhändler und die Goldschmiede.
Pauls Mutter wohnte im oberen Stock eines zweistöckigen Hauses an einem der Hänge; in meiner Erinnerung gab es außer dem Fluss im engen Tal nur Hänge. Sie war eine hochgewachsene Frau, vielleicht vierzig, vielleicht fünfzig, damals konnte ich Leute in diesem Alter nicht sonderlich gut einschätzen. Wir saßen im Wohnzimmer ihrer akkurat aufgeräumten Wohnung, sie hatte uns Kaffee gekocht, einen guten, richtig starken übrigens, und schon nach einer Stunde holte sie ein paar Fotoalben hervor und schlug sie auf. Ich setzte mich neben sie.
Paul interessierte das alles nicht. Er lief in der Wohnung auf und ab, und ich glaube, er wäre am liebsten sofort wieder zurück nach Freiburg gefahren. Ich fand die Bilder des zweijährigen Paul süß, aber mein Gott, in dem Alter sind sie immer süß. Plötzlich hielt ich inne. Frau Becker blätterte eine Seite um, und da klebte unverkennbar ein Foto von Paul,und neben ihm ging ein adrett in ein helles Sommerhemd gekleidetes Mädchen, das eine Hand um seine Hüfte gelegt hatte. Paul trug ein weites helles Hemd, und er hatte eine altmodisch wirkende Bundfaltenhose an, er sah gut aus mit seinem länglichen, schmalen Gesicht, geheimnisvoll irgendwie, ein
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