Rebellen: Roman (German Edition)
war unsicher und launisch. Keine gute Kombination.
»Meine Damen und Herren«, sagte der Chef, »dies ist ein besonderer Tag für unsere Firma. Ich bin ein alter Mann, und ich habe Sorge zu tragen, dass das Unternehmen auch in Zukunft eine tragfähige und verlässliche Führung hat.«
»Dacht ich es mir doch«, sagte Paul zu seinem Nebenmann.
»Daher«, fuhr der Chef fort, »habe ich mich entschieden, das Unternehmen zu verkaufen.«
Hundert Kehlen schnappten nach Luft, Pfiffe waren zu hören.
»Es geht kein einziger Arbeitsplatz verloren, im Gegenteil, die Firma wird wachsen. Sie hat nun einen starken Partner. Ich stelle Ihnen nun Ihren künftigen Chef vor.«
Paul bekam plötzlich keine Luft mehr, die Knie schlotterten, ihm wurde schwindelig, und sein Gesichtsfeld engte sich immer mehr ein, bis er nur noch das Rednerpult sehen konnte.
Alexander sprang mit einem Satz auf die Bühne und trat hinters Pult. Paul verstand nur noch einzelne Redefetzen.
Freue mich.
Niemand muss sich sorgen.
Zusammenarbeit.
Konzentration in der Helmholtz-Gruppe.
Anstrengungen besser bündeln.
Gemeinsam stärker.
Paul drehte sich langsam um. Einige der Umstehenden sahen ihn besorgt an, weil er die Füße über den Boden zog wie ein alter Mann.
Er verließ die Firma und betrat sie nie wieder.
87. Alexander heute
Alexander Helmholtz kniff die Augen zusammen.
Sein Sohn hatte den Besprechungsraum betreten.
Luca.
Dann merkte er – es war Paul.
Luca.
Paul.
Jonas.
Für eine ewig lange Zehntelsekunde verlor er die Orientierung.
Erinnerung ist ein anderes Kaliber als das Gedächtnis. Erinnerung wählt aus. Erinnerung bewahrt jene Dinge auf, die ein unkontrollierbares Unterbewusstsein für wert hält, dass sie aufbewahrt werden, oder die so schrecklich sind, dass sie unvergesslich werden. Sie hält sie frisch wie am ersten Tag. Ihr Maßstab sind weder Uhr noch Frau Ballhaus’ Terminkalender. Erinnerung lässt sich nicht kontrollieren, bestellen, kommandieren, sie kommt und geht, wie es ihr passt, oft ohne Vorwarnung und ohne Ankündigung, und wenn sie erscheint, ist sie wahr, sosehr man zuvor auch versucht haben mag, sie zu verbiegen, zu verleugnen oder gar ganz zu löschen.
Jonas blieb vor dem Tisch stehen.
Unter den Arm hatte er einen Packen brauner Notizhefte geklemmt, unverkennbar – Pauls Tagebücher.
Er legte sie vorsichtig auf den Tisch und setzte sich. Mit einer sanften Bewegung strich er mit dem Handrücken über den Umschlag.
Dann sah Jonas Alexander direkt in die Augen.
»Wir müssen reden«, sagte er.
Dank
Dank
Als Jugendlicher habe ich mir einmal ein Buch aus der Heimbibliothek ausgeliehen, das ich nie wieder vergessen sollte. Die Geschichte ging so: Im Viktorianischen Zeitalter bricht eine vornehme Familie aus London samt Butler zu einer Seereise auf. Unterwegs erleiden sie Schiffbruch und landen auf einer einsamen Insel. Der Herr des Hauses befiehlt dem Butler, Feuer zu machen, denn er selbst kann es nicht. Es zeigt sich: Nur der Butler beherrscht die auf der Insel lebensnotwendigen Fertigkeiten. Die Rangordnung ändert sich. Bald schickt der Butler den Herrn zum Brennholzsuchen und anderes mehr. Irgendwann schwingt er sich zum Chef auf, dem nun auch die Frau zusteht. Der frühere Herr ist fortan der Knecht. So leben sie mehr oder weniger friedlich unter umgekehrten Vorzeichen, bis eines Tages ein Segel am Horizont erscheint, eine englische Fregatte nimmt alle mit an Bord und bringt sie zurück nach London. Dort ist dann alles wieder wie früher; der Herr ist wieder der Herr und der Butler wieder der Butler.
Dieses Buch empfand ich als große Erleichterung. Es zeigte mir: Ich war nicht schuld an meiner Lage oder an der Lage meiner Familie. Es gab offenbar Mächte, von denen ich noch keine Ahnung hatte. Ich verstand, dass diese Mächte jeden von uns willkürlich an irgendeine Stelle der Gesellschaft werfen, ohne Rücksicht auf Talent oder Charakter.
Schade, ich habe diese Erzählung nie wiedergefunden. In meiner Erinnerung klingt sie nach Charles Dickens, aber als ich dessen Werke las, fand ich diese Story nicht darunter.
Später, als ich selbst Geschichten erfand, wollte ich immer eine wie diese schreiben. Aber im Zeitalter der Satellitentelefone gibt es keine einsamen Inseln mehr, und so legte ich die Idee beiseite, ohne sie je ganz vergessen zu können.
Erst im Rückblick wurde mir dann plötzlich bewusst, dass ich in den späten sechziger und den frühen siebziger Jahren eine Zeit erlebt
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