Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)
Reisetruhe.
»Sagen Sie Seiner Gnaden, ich danke ihm«, erwiderte Victoria. Sie hatte heute Morgen erst zweimal etwas gesagt. Ihre Stimme fühlte sich hoch und dünn an und surrte ihr in den Ohren.
Andrew nickte, und die Männer näherten sich der Fensterbank, fassten sich bei den Händen und bauten ihr einen Sitz. Ein paar Sekunden peinlichen Manövrierens, dann saß Victoria auf ihren Armen und hielt ihre Schultern umschlungen, während der schwarze Taft ihre Beine verschluckte.
»Sitzen Sie auch sicher?«, fragte Andrew besorgt.
»Ja.«
Ohne ein weiteres Wort schoben sich die Männer durch die Tür auf die dunkle Treppe zu. Es schien fantastisch, wie aus einem Schauerroman oder einer Erzählung am Kaminfeuer; die sich windenden Steinstufen, hinunter, hinunter und immer nur hinunter in eine Art von Unterwelt. Mit jedem Schritt schwankte sie in ihrem Korb aus verschränkten Händen. Die Krinoline kratzte flach gedrückt an der Wand entlang oder verfing sich in der Laibung eines der seltenen Fenster. Mit jedem Schritt stürzte sie tiefer, weg vom Licht, weg von sich selbst, bis ihr Bewusstsein losgelöst war, als liefe sie an einem Strick ein, zwei Schritte hinter jenen Männern her, die eine schlanke, schwarz gekleidete Frau zwischen sich trugen.
Sie reiste ab. Sie verließ Raeburn Court. Sie verließ ihn.
Das Gefühl der Leere wurde immer größer, ihr Magen schmerzte, ihr Atem raste. Als der Stallbursche stolperte, hätte sie beinahe das Gleichgewicht verloren und konnte sich gerade noch halten, bevor sie kopfüber aus den Armen der beiden Männer stürzte. Aber sie erschrak nicht, und auch ihr Herzschlag beschleunigte sich nicht. Sie war abgestumpft, so abgestumpft, dass sie sich nur ein wenig weiter nach hinten lehnte, ein wenig fester die Schultern umfasste.
Als schließlich mit einem Schlag die Normalität zurückkehrte, stellte sie fest, dass sie angehalten hatten – vor dem Haupteingang des Herrenhauses. Eine Gestalt trat aus den Schatten und öffnete die Tür.
Raeburn.
»Sie sind gekommen!«, keuchte Victoria, bevor sie Zeit hatte, nachzudenken.
Sein Lächeln über dem Schal war noch härter und verzerrter als sonst. »Ich habe Ihnen doch gesagt, ich kann mich nicht von Ihnen fern halten.«
Der Lakai und der Stallbursche trugen sie zur Tür hinaus, aber sie reckte den Hals nach dem Duke.
Er rückte sorgsam seinen Hut zurecht und trat ins Freie. Folgte ihr.
Victoria bemerkte den Nieselregen nicht, auch nicht die schwarze Kutsche, die auf der Auffahrt wartete, als Andrew und der Stallbursche sie hineinhoben. Sie ließ sich von den Männern auf die Sitzbank heben, doch als sie losließen, beugte sie sich sofort nach vorn, um nach dem Duke zu sehen.
Er kam näher, stellte sich unter die Tür der Kutsche, duckte sich hinein und nahm ihr gegenüber Platz. Ihr Herz machte einen Sprung, und einen Augenblick lang hatte sie die wahnsinnige Vorstellung, er wolle mit ihr kommen.
Aber einen Atemzug später kehrte die Vernunft zurück, und die Fantasie zerplatzte.
Eine Minute verging, zwei Minuten, aber Victoria wusste nichts zu sagen. Seine schiere Präsenz schien jeden Gedanken zu zertrümmern, und alles, was blieb, waren die schlichten Tatsachen: er in der Kutsche, ihr gegenüber.
Gott, wie sie alles an ihm liebte! Seine Stimme, seinen Geruch, jeden Muskel und jede Sehne seines Körpers und am meisten von allem diese unergründliche Essenz, die ihn sprechen ließ, wie er sprach, tun ließ, was er tat, ihn wütend machte, zärtlich oder traurig. Sie wollte ihn nicht verlassen. Mehr als alles, was sie je im Leben gewollt hatte, wollte sie bei ihm bleiben.
Aber sie musste fort. Ihre Mutter brauchte sie, und so selbstsüchtig es auch sein mochte, sie konnte den Ruf nicht ignorieren. Und wäre ihre Mutter nicht gewesen, gab es da immer noch den Vertrag – die versprochene Woche ging zu Ende. Sie dachte flüchtig darüber nach, ihm die entgangene Zeit nachzuliefern, da sie sonst auf immer in seiner Schuld …
»Ich konnte Ihnen nicht versprechen, Sie hinauszubegleiten, weil ich es vielleicht nicht zur Tür hinausgeschafft hätte«, sagte er.
»Ich verstehe.« Victoria schaute in den trüben, regnerischen Morgen hinaus. »Also darf ich mich über die Wolken freuen.«
Raeburn lächelte, und diesmal hatte es nichts Bitteres. »Aber Sie haben den Sturm doch immer gemocht.«
»Ja«, sagte sie. »Auch wenn ich vermutlich keinen mehr erlebe, ohne dabei an Sie zu denken.« An uns zu denken .
Raeburn
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