Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)
Raeburn würde sich in die dunklen Tiefen des Herrenhauses flüchten. Aber weshalb? Was stimmte nicht mit ihm?
Er schien die Frage zu ahnen, denn er rollte sich auf sie, als wolle er sie ablenken. »Bis zum Morgengrauen gehören Sie mir.«
Sie wollte etwas erwidern, doch er hinderte sie mit einem Kuss, und sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihn zu fragen. Es gab ja immer noch das Vergnügen. Und das würde er ihr auch geben. Es gehörte ihr genauso wie ihm, und allein das zählte.
Der Raum war von einer stahlgrauen Morgendämmerung erfüllt, als Byron die Augen aufschlug. Victoria hatte sich im Schlaf zur Seite gerollt und die Decke mitgenommen, so dass Byron halb entblößt in der kalten Luft lag. Er hatte sich keine Sorgen gemacht, nicht rechtzeitig zu erwachen. Nach dem furchtbaren Erlebnis, das ihm als Junge widerfahren war, erwachte er beim ersten Anzeichen von Licht und flüchtete, bevor es ihm Leid zufügen konnte. Hätte der Schmerz nicht ausgereicht, Byron nie vergessen zu lassen, die Erinnerung an Wills Reaktion hätte es.
Er stand vorsichtig auf, um Victoria nicht aufzuwecken, und kleidete sich lautlos an. Es bestand kein Grund zur Heimlichkeit, sagte er sich. Es war schließlich sein Haus und seine Woche. Er konnte kommen und gehen und Victoria behandeln, wie es ihm beliebte. Dennoch fühlte er sich wie ein Verbrecher auf der Flucht, als er das schmutzige Geschirr aufs Tablett lud. Er blieb sogar zögernd an der Tür stehen und warf einen Blick auf die Gestalt, die so nichtsahnend auf den Kissen schlief. Ihr weißgoldenes Haar lag wie ein Strahlenkranz um ihren Kopf, ein Arm streckte sich fast flehentlich in seine Richtung. Mit ihren blassen englischen Gesichtszügen und dem liebenswerten feuchten Fleck auf der einen Wange schien sie im überladenen exotischen Boudoir seines Onkels völlig deplatziert. Byron lächelte unwillkürlich. Sie konnte sich im Schlaf so vergessen, dass sie sabberte. Er wollte bleiben und sie aufwachen sehen, ihren Gesichtsausdruck beobachten, wenn sie erwachte und ihn entdeckte.
Aber das war unmöglich. Er konnte sie aufwecken und sich von ihr verabschieden, aber das hätte nur zu der einen unentrinnbaren Frage geführt, die er nie wieder beantworten würde. Jetzt wartete der Tag auf ihn, dessen erste Stunde er mit Gewichten und Keulen in seiner Turnhalle verbrachte, dann folgten geschäftliche Transaktionen und die Buchhaltung, die kein Ende zu nehmen schien.
Byron schüttelte den Kopf und ging zur Tür hinaus. Die Schuldgefühle blieben ihm die ganze Treppe hinab auf den Fersen.
10. Kapitel
Victoria erwachte in Sonnenlicht gebadet, das durch die Ostfenster des Turmzimmers fiel. Sie war allein und musste gegen die Enttäuschung ankämpfen, auch wenn sie nichts anderes erwartet hatte.
Sie zitterte, unfähig, das vage Unbehagen abzuschütteln, das ihr seit dem gestrigen Abend zusetzte. Sie hätte nicht so verstört sein dürfen. Schließlich konnte es nichts Unkomplizierteres geben als die Beziehung zwischen Raeburn und ihr. Sie war schwarz auf weiß in einem Vertrag fixiert, der in ihrem Nachttisch im Einhorn-Zimmer lag. Eine Dienstleistung gegen Bezahlung, nicht mehr und nicht weniger. Sie musste ihn sich aus dem Kopf schlagen.
Sie streckte sich langsam, die Glieder schwer und schmerzend. Dann setzte sie sich auf und suchte zwischen den zerwühlten Kissen und Teppichen nach ihren Kleidern. Raeburns waren allesamt fort, stellte sie ohne große Überraschung fest. Sie zog die Strümpfe an, das Unterkleid, das schreckliche Korsett. Die Haken bekam sie ohne fremde Hilfe zu, aber es zuzuschnüren war knifflig, und sie starrte hilflos den Diwan an, auf dem ihr zerknittertes lavendelblaues Kleid lag. Sie würde mit offenem Korsett nie hineinpassen, und die Knöpfe zu schließen war sogar noch unmöglicher. Sie erwog, sich in Unterwäsche auf ihr Zimmer zu schleichen – es gab so wenig Bedienstete, dass sie vermutlich nicht gesehen wurde -, aber sie war nicht sicher, ob sie es fand, und die Vorstellung, halb bekleidet durch die Gänge Raeburn Courts zu irren, ließ sie zögern.
Das Dilemma erledigte sich, als die Tür aufging.
»Oh«, sagte Annie und zwinkerte in den Sonnenschein. »Ich wusste nicht, dass Sie schon wach sind. Ich hätte früher kommen sollen, Entschuldigung …«
»Sie haben Frühstück mitgebracht, und das allein zählt«, sagte Victoria beruhigend und nickte in Richtung des Tabletts.
Annie starrte das Tablett an, als sähe sie es zum ersten
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