Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)
davonlief.
Sie mochte sich erfrischt fühlen, aber sie war doch nicht ganz auf der Höhe und fühlte sich etwas... einsam. Es musste am Garten liegen, dass ihr so sonderbar zumute war – er war wie eine Symphonie auf verstimmten Instrumenten, raffiniert, aber vernachlässigt, künstlich und dennoch verwildert. Doch auch wenn sie zwischen Hecken und Rosenbüschen wandelte, ihre Gedanken kehrten immer wieder zum Herrenhaus und dem Mann darin zurück.
Diese Zeit jetzt gehörte ihr, gestohlene Minuten aus einer Woche, die allerdings ihm gehörte. Also, warum konnte sie den Herzog und sein dunkles Geheimnis nicht vergessen? Sie versuchte, sich auf die warme Sonne auf ihrem Rücken zu konzentrieren, auf das raschelnde Laub zu ihren Füßen. Doch ihre Gedanken kehrten ständig zu Raeburn zurück, der sich in einem düsteren Raum im Inneren des Hauses verbarg und den prachtvollen Tag aussperrte.
Victoria quetschte sich zwischen zwei verwilderten Eiben durch – und blieb wie angewurzelt stehen. Anstatt sich im nächsten Gestrüpp wiederzufinden, stand sie auf einer kleinen gepflegten Lichtung, auf der sich drei gepflasterte Wege kreuzten. Die Hecken waren ordentlich getrimmt, die Blumenbeete schon für den Winter gemulcht.
Aber so überraschend der Wandel auch war, er war es nicht, der sie innehalten ließ. Inmitten des Platzes, auf einer geschwungenen Steinbank, saß die Haushälterin, ein Teetablett neben sich.
Mrs. Peasebody stellte ihre Tasse auf den Unterteller, den sie in der Hand hielt, und erhob sich so hastig, dass der Tee über den Rand schwappte und einen dunklen Fleck auf ihrem praktischen grauen Kleid hinterließ.
»Eure Ladyschaft!«, rief die breitgesichtige Frau aus, das letzte Wort mehr ein Japsen, weil der dampfende Tee auf ihre Finger tropfte.
»Mrs. Peasebody, bitte verzeihen Sie«, sagte Victoria, die eigene Verblüffung kaschierend. »Ich wollte nicht stören. Der Tag ist einfach so schön, da konnte ich nicht anders, als nach draußen zu gehen …« Sie verstummte, weil es ihr sonderbar erschien, sich bei der Haushälterin für einen Spaziergang im Garten des Gastgebers zu entschuldigen.
»Sie stören doch nicht, meine Liebe.« Mrs. Peasebody wedelte mit dem Taschentuch, mit dem sie den Fleck auf ihrem ausladenden Busen betupfte. »Es ist nur, dass ich hier draußen mit niemandem rechne. Es gibt auch nicht viel, was jemanden herziehen könnte, und Seine Gnaden, fürchte ich… Nun, Seine Gnaden geht nicht oft nach draußen – genau wie sein Großonkel. Das muss im Blut liegen …« Sie ließ sich wieder auf die Bank sinken.
Victoria war erstaunt, den Vergleich, den sie heute Morgen selbst angestellt hatte, wiederholt zu hören. Doch sie hielt den Mund, während die alte Frau fortfuhr.
»Welch eine Schande, dass solche Leiden die nobelsten Familien Englands plagen müssen.« Mrs. Peasebody schüttelte den Kopf.
»Leiden?«, fragte Victoria. Sie erinnerte sich an Gerüchte, die Raeburns seien blutkrank, und Raeburn selbst hatte am Abend zuvor so etwas angedeutet. Endlich hatte sie etwas Greifbares: eine Krankheit, keine Marotte.
Die Haushälterin sah sie durchdringend an. »Also, Eure Ladyschaft, ich war den Raeburns schon eine gute Hausangestellte, da waren Sie noch gar nicht geboren. Wenn Seine Gnaden sich Ihnen anvertrauen wollen, dann tut er es sicher. Und jemanden, der’s Ihnen besser erklären könnte als er, kennt er wohl nicht. Nicht, dass sich viele damit befasst hätten. Aber was mich angeht, meine Lippen sind versiegelt.«
»Ich verstehe«, sagte Victoria enttäuscht, weil das Thema, das sie interessierte, das Einzige zu sein schien, über das diese Frau nicht reden wollte.
Mrs. Peasebody schien ihre Enttäuschung nicht zu bemerken und wies auf die Bank gegenüber. »Setzen Sie sich, Mylady, und lassen Sie uns ein bisschen plaudern, wenn Sie möchten. Es ist manchmal recht einsam in dem alten Haus.« Sie betrachtete liebevoll die Kalksteinmauern, die sich über der Anhöhe erhoben.
Zu jeder anderen Zeit wäre Victoria vor derartiger Dreistigkeit zurückgescheut, aber sich auf Raeburn Court an den üblichen sozialen Regeln festzuklammern, erschien ihr lachhaft. Also entschied sie, ihrer Neugier nachzugeben, und setzte sich. »Also haben Sie den letzten Duke gekannt?«
Mrs. Peasebody nickte mit Nachdruck, bis die eisgrauen Löckchen, die unter ihrer adretten Haube herausspähten, hüpften. »Und den Duke vor ihm, als ich noch ein junges Mädchen war.« Ihr Blick schweifte in
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