Rebellin unter Feen
fragte Baldriana. »Willst du dich hinlegen?«
Bryony schüttelte den Kopf. »Mir fehlt nichts.«
Vor Bryonys Fenster hingen schwarz die Äste der Eiche, und die Mondsichel verschwand immer wieder hinter Wolken. Auf den Fenstersims gestützt blickte Bryony in den Garten hinaus. Vor lauter Aufregung spürte sie einen Knoten im Magen.
Auch wenn sie im Haus Metall fand, konnte sie es unentdeckt mitnehmen? Und wenn der schlimmste Fall eintrat und die Menschen sie erwischten, was passierte dann?
Sie holte tief Luft, kletterte auf den Fenstersims und ließ sich mit dem Kopf voraus in das Dunkel fallen.
Ihre durchscheinenden Flügel gingen auf, und sie schwebte zum Rasen hinunter. Mit den nackten Füßen streifte sie das Gras. Um diese Zeit schliefen die meisten Eichenfeen. Trotzdem sah sie sich zur Vorsicht noch einmal um. Wenn jemand mitbekam, dass sie nachts unterwegs war, allein …
Doch der mächtige Eichenstamm blieb dunkel, und alle Fenster waren geschlossen. Beruhigt drehte sie sich wieder um und flog auf das Haus zu. Grau und bedrohlich ragte es vor ihr auf, und Bryonys Entschluss geriet ins Wanken. Fast wäre sie umgekehrt. Doch dann dachte sie daran, weswegen sie gekommen war – die Menschen haben Metall –, und flog entschlossen weiter.
Auf den Rasen folgten steinerne Platten. Bryony richtete sich mit einem Schwung auf und landete unmittelbar vor dem Hintereingang des Hauses. Die Tür hatte zwei Flügel mit Füllungen aus Glas. Durch die Scheiben drang gedämpftes Licht. Was erwartete sie dahinter? Bryony nahm ihren ganzen Mut zusammen, drückte das Gesicht an die untere Scheibe und blickte hindurch.
Zuerst konnte sie nur undeutliche Schatten erkennen. Sie schirmte die Augen mit den Händen ab und spähte durch die durchsichtigen Vorhänge. Erschrocken fuhr sie zurück und ließ die Hände fallen. Das hässliche steinerne Haus, in dem die Menschenmonster wohnten, war innen wunderschön eingerichtet.
Noch nie in ihrem Leben hatte sie so elegante Möbel aus glänzend poliertem, dunklem Holz gesehen. Die schönsten Stoffe in der Eiche wirkten verglichen mit dem verschlungenen Blattmuster auf dem Sofa der Menschen grob, und kein handgeknüpfter Läufer Winkas konnte es mit dem flauschigen Teppich aufnehmen, der den Boden bedeckte. Sogar die Wände waren unglaublichglatt und gerade. Waren sie wirklich blau gestrichen oder täuschte das Licht?
Woher kam eigentlich das Licht? Bryony sah kein Feuer und keine Kerzen, trotzdem erfüllte ein heller Schein das Zimmer. Neugierig drückte sie das Gesicht wieder an die Scheibe. Aha, jetzt sah sie die Quelle: zwei Lampen rechts und links des Sofas. Wie kam es nur, dass die Kerzen in den Lampen so ruhig brannten? Und warum fingen die Papierschirme kein Feuer?
Zauberei, dachte sie. Die Menschen können zaubern.
Verwirrt setzte sie sich auf die Treppenstufe. Dann konnten die Menschen keine Monster sein. Sie waren vielleicht gefährlich, aber keine von Instinkten beherrschte Tiere. Sie waren intelligente Wesen. Wie die Feen.
Ein Schatten fiel über sie, und sie sprang erschrocken auf. Doch drohte keine Gefahr, der Schatten war von drinnen durch die Glastür gefallen. Im Haus war alles hell erleuchtet, aber Bryony stand im Schutz des dunklen Gartens. Die Menschen würden sie kaum entdecken, solange sie nicht wussten, wo sie hingucken sollten. Bryony ärgerte sich stumm über ihre Schreckhaftigkeit und trat wieder an die Scheibe.
»Hast du gesehen, dass wir einen Brief von Paul bekommen haben?« Die Stimme hinter der Scheibe klang dumpf.
Sprecherin war eine ältere Frau mit braunen, von silbernen Strähnen durchzogenen Locken. Sie nahm ein Tablett von einem Teetisch und verschwand aus Bryonys Blickfeld. »Er klingt in letzter Zeit so gut gelaunt. Ob er jemanden kennengelernt hat?«
Sie sprechen unsere Sprache, dachte Bryony erstaunt. Warum hatten die Feen das in den vielen Jahren ihrer Nachbarschaft nie bemerkt?
»Das glaube ich nicht«, sagte eine tiefere Stimme. Bryony streckte den Hals. Ein zweiter Mensch betrat das Zimmer und setzte sich in einen Sessel. Verwirrt runzelte sie die Stirn über seineckiges Kinn, die flache Brust und die breiten Hände. Dann dämmerte ihr, dass es sich bei den beiden Menschen um ein Paar handelte und dies der Mann war. Wie merkwürdig er aussah! Aber zugleich erinnerte er sie an den Jungen, dem sie damals vor Jahren auf der Eiche begegnet war. Wohnte er auch in dem Haus?
»Jedenfalls singt er gern im Chor«, sagte wieder die
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