Rebellin unter Feen
sie sie aus und schwebte zum Schreibtisch hinunter. Sie packte das Messer an dem silbernen Schaft mit beiden Händen und zog daran.
Es kam so leicht heraus, dass dabei gleich das ganze Gefäß umkippte. Bryony war vollauf damit beschäftigt, inmitten der Stifte das Gleichgewicht zu halten, und erkannte die schlimmste Gefahr erst, als es schon zu spät war: Das Tongefäß fiel vom Rand des Schreibtischs auf den Boden.
»Was war das?«, rief die Stimme der Frau im Nachbarzimmer. Und ihr Mann antwortete: »Es hörte sich an, als sei es aus dem Arbeitszimmer gekommen.«
Im Gang waren Schritte zu hören, die sich viel zu schnell näherten. Bryony blieb keine Zeit mehr, zum Fenster zu rennen. Notgedrungen musste sie sich ein Versteck suchen. Sie rannte auf die andere Seite der Schreibtischplatte und sah sich aufgeregt nach allen Richtungen um. Unter ihr stand ein Korb, der zur Hälfte mit zusammengeknülltem Papier gefüllt war. Sie ließ das Messer mit der Spitze voraus hineinfallen und sprang hinterher. Sie konnte sich gerade noch ducken und ein zerknittertes Blatt Papier über den Kopf ziehen, da ertönte ein Klicken, und im Zimmer wurde es strahlend hell.
»Was ist, George?«, rief die Frau.
»Meine Stifte sind umgefallen«, antwortete der Mann. »Wahrscheinlich eine Maus.« Er ging um den Tisch, und sein Schatten fiel über den Korb. Bryony erstarrte.
»Ach so.« Die Frau klang erleichtert. »Wenn’s weiter nichts ist. Bevor wir zu Bett gehen, stelle ich die Fallen auf.«
»Hm«, brummte der Mann unschlüssig. Bryony hörte ein kratzendes Geräusch, gefolgt von hellem Klirren. Der Mann hob das Gefäß auf und stellte die Stifte wieder hinein. Dann löschte er das Licht, verließ das Zimmer und machte die Tür hinter sich zu.
Bryony drückte das Gesicht an die Knie und schluckte. Der Mann war ihrem Versteck so nahe gekommen, dass sie ihn sogar hatte riechen können. Der Gärtnerin sei Dank, dass er sie nicht gerochen hatte. Sie musste das Haus sofort verlassen.
Sie warf sich mit aller Kraft von einer Seite des Papierkorbs zur anderen, bis er umkippte und sie unter einer Flut von zerknülltem Papier begrub. Sie kroch darunter hervor und betrachtete das Messer im Mondlicht.
Die Klinge hing lose in der Halterung. Bryony bewegte den Schaft hin und her, bis sie herausfand, wie man ihn öffnen konnte. Ihr neues Messer fiel auf den Boden vor ihren Füßen.
Jetzt hatte sie die perfekte Waffe: ein dünnes, silbernes Dreieck, leichter als Feuerstein und härter und elastischer als Knochen. Das hintere Ende, mit dem es im Schaft gesteckt hatte, hatte einen Schlitz. Daran konnte man einen Griff befestigen.
Bryony ließ die beiden Stücke des Schafts neben dem umgekippten Papierkorb liegen, kroch durch das Fenster nach draußen und flog zur Eiche zurück. Die glitzernde Beute hatte sie sich zwischen die Zähne geklemmt.
In dieser Nacht tat sie kein Auge zu.
VIER
Nachdem Bryony einen Griff geschnitzt hatte, befestigte sie ihn mit einem gedrehten Darm an der Klinge. Das neue Messer lag so gut in ihrer Hand, als sei es ein Teil davon. In ihrem Zimmer übte sie damit. Sie vollführte alle möglichen Hiebe und Stiche und warf es sogar auf einen mit Heu gefüllten Sack als Zielscheibe. Bald traute sie sich zu, es an einem echten Opfer zu erproben. Doch auf der Jagd war Dorna immer in der Nähe, und Bryony wollte nicht, dass jemand von ihrem Besuch im Haus der Menschen erfuhr, zumindest noch nicht. Sie musste auf eine Gelegenheit warten, bei der sie allein unterwegs war.
Aus dem Herbst wurde Winter, und Dorna ging immer weniger gern nach draußen. Grund war nicht der alte Wermut – der hatte sich ohnehin seit Wochen nicht mehr sehen lassen –, sondern das Wetter. Einmal war es zu kalt zur Jagd, dann wieder zu nass oder zu windig. Der Unterricht fand jetzt überwiegend in der Eiche statt. Dorna brachte Bryony bei, wie man die Felle mit Hilfe des Gehirns der getöteten Tiere gerbte – zweifellos eine wichtige Arbeit, aber auch eine schmutzige, stinkende Angelegenheit und ein dürftiger Ersatz für frische Luft und Freiheit.
Als die ersten Schneeflocken vom Himmel herunterschwebten, verlor Bryony jegliches Interesse am Gerben, an der Herstellung von Talg und an den anderen alltäglichen Beschäftigungen, die sie bei Dorna lernte. Sie war ruhelos und sehnte sich nach einerneuen Herausforderung. In Gedanken beschäftigte sie sich immer öfter mit dem Haus und seinen seltsamen Bewohnern.
Eigentlich gab es für sie,
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