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Rebellin unter Feen

Titel: Rebellin unter Feen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. J. Anderson
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nach ihr und hob sie hoch.
    Sie war es nicht gewohnt, angefasst oder gar hochgehoben zu werden. Panisch begann sie zu zappeln, konnte sich aber nicht befreien. Kaum hatte er sie abgesetzt, wollte sie fliehen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Sie ging taumelnd ein paar Schritte und setzte sich unsanft.
    »So«, sagte Paul.
    Er klang zufrieden, als hätte er ihr einen Gefallen getan. Klinge biss sich auf die Lippen. Wenn er sie noch einmal packte, würde sie ihn in den Daumen stechen. An die Folgen wollte sie nicht denken.
    Doch die Scheide an ihrem Gürtel war leer.
    Klinges Herz setzte einen Schlag aus. Wo war ihr Messer? Sie sprang auf und sah sich suchend auf dem Schreibtisch um, auf dem sie stand. Bestimmt war es herausgefallen, als Paul sie auf der Tischplatte abgesetzt hatte. Es musste irgendwo liegen.
    »Hast du etwas verloren?«, fragte Paul.
    Klinge rannte zum Rand der Platte und suchte aufgeregt denBoden ab. Doch dort lagen lediglich einige lose Haare und Staubfusseln. Ihre Gefängnisschachtel stand offen am Fußende des Betts, war aber ebenfalls leer.
    Sie wandte sich ab. Ihr war wieder übel. Das kostbare Stahlmesser hatte ihr von allen Dingen, die sie besaß, am meisten bedeutet – und jetzt hatte sie es verloren. Wie sollte sie ohne es aus dem Haus entkommen?
    »Was ist?«, wollte ihr Entführer wissen.
    Klinge schüttelte nur stumm den Kopf, setzte sich und schlang die Arme um die Knie. Sie fühlte sich ganz klein und hilflos.
    Paul griff an ihr vorbei und zog ein Heft mit Spiralbindung aus dem Regal. Klinge beachtete es in ihrem Unglück nicht weiter. Er legte das Heft auf seinen Schoß und blätterte darin. Klinges Blick fiel auf ein Bild, und sie sah unwillkürlich genauer hin. Die Eiche! Sie richtete sich hastig auf.
    Ein Geflecht aus silbernen Linien bedeckte das Blatt Papier. Die Umrisse der ausladenden Äste und des breiten, knorrigen Stamms waren unverkennbar. Es handelte sich um eine Zeichnung, wie die Feen ihres Volkes sie seit über hundert Jahren nicht mehr angefertigt hatten. Und die Ähnlichkeit war immerhin so groß, dass Klinge Heimweh bekam. Wie hatte Paul das gemacht?
    »Ich würde dich gerne zeichnen«, sagte Paul. »Wenn es dir recht ist.«
    »Mich zeichnen?« Klinge vergaß vor lauter Erstaunen, dass sie unglücklich war. »Du meinst – ein Bild von mir? Jetzt?«
    Er nickte.
    Ihre Augen kehrten zu dem Bild von der Eiche zurück. »Hast du das gemacht?«
    »Ja.«
    Klinge zögerte noch einen Augenblick, dann sagte sie: »Also gut.«
    »Prima.« Pauls Gesicht hellte sich auf. »Bleib, wo du bist, und bewege dich möglichst nicht.« Er holte einen Stift aus der Schublade und beugte sich über ein leeres Blatt.
    Klinge streckte den Hals, aber Pauls gesenkter Kopf behinderte ihre Sicht. Also sah sie sich stattdessen im Zimmer um. Verglichen mit den anderen Zimmern, die sie gesehen hatte, wirkte es mit dem nackten Boden und den einfachen Möbeln sehr schlicht. Doch dann hob sie den Kopf, und ein aufgeregter Schauer durchlief sie.
    An den Wänden hingen lauter Bilder.
    Das größte hing über der Kommode: ein Wirbelsturm aus Gold, Ocker und Blau, durch den sich ein schwarzer Schatten bewegte. Ein anderes Bild zeigte Kiefern in einer verschneiten Landschaft, überragt von fernen Berggipfeln. Auf der anderen Seite des Zimmers bevölkerten unzählige kleine Gestalten eine hügelige Landschaft mit Seen. Und in der Ecke ihr gegenüber blickte ein Mann in einen Spiegel an seinem eigenen Hinterkopf.
    Fasziniert betrachtete Klinge die Bilder. Sie unterschieden sich deutlich von den Wandteppichen im Audienzsaal der Königin oder den einfachen Bildern von Blumen und Früchten in den anderen Zimmern des Hauses. Sie wirkten beunruhigend und verwirrend, einige waren geradezu hässlich. Doch zugleich hatten sie etwas, das den anderen Bildern fehlte – ein Mehr an Bedeutung, an Leben. Sie sprachen zu Klinge in einer Sprache, die sie nicht verstand.
    »Bitteschön«, sagte Paul zufrieden und hob das Skizzenbuch hoch. Klinge war völlig fasziniert. Mit einigen sparsamen Strichen hatte er die Umrisse ihrer Glieder, ihre Haare, ihre Flügel und ihre Kleider auf Papier festgehalten. Die Striche wirkten wie achtlos hingeworfen, doch wirkte ihr Abbild eben deswegen besonders lebendig, als könnte es jeden Moment aus dem Skizzenblock herausspringen.
    Am meisten erstaunte sie aber ihr Gesicht. Sie erkannte ihre schmalen, schrägstehenden Augen, ihren breiten Mund und das spitze Kinn. Sogar ihren

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