Rebellin unter Feen
blieb unbewegt. Beatrice drückte die Hände an den Mund, wie um ein Schluchzen zu unterdrücken, und eilte ins Haus zurück. Ihr Sohn blieb allein auf der Veranda sitzen.
Klinge verschränkte die Arme und musterte ihn kritisch. Er musste sehr stolz auf seinen Thron sein, denn er saß ständig darauf. Seine Mutter bediente ihn von vorne bis hinten und bettelte förmlich um seine Gunst. Doch trotz seines scheinbaren Reichtums und seiner Macht wirkte er nicht glücklich.
Damit befand er sich in guter Gesellschaft, dachte Klinge. Bitterkeit stieg in ihr auf. Wie hatte Amaryllis die Bücher verbrennen können? Sie war doch selber einmal eine Gelehrte gewesen und hätte es besser wissen müssen.
Feenstimmen rissen Klinge aus ihren Gedanken. Sie blickte zurück. Zwei Sammlerinnen tauchten am Fuße der Eiche auf, duckten sich unter der Hecke hindurch und stiegen den Hang in Richtung Wiese und Wald hinunter. Offenbar hatten sie sich vom Rest der Gruppe getrennt, was sie ihrem gemächlichen Tempo nach zu schließen aber nicht weiter bekümmerte.
Klinge schnaubte verächtlich. Zuerst die ganze Aufregung wegen des alten Wermut und zusätzlicher Schutzmaßnahmen, obwohl sich die ganze Zeit, in der sie aufgepasst hatte, kaum eine Krähe hatte blicken lassen. Und jetzt schlenderten hier zwei Sammlerinnen über die Wiese, als ob …
Sie schnippte mit den Fingern. Natürlich! Wermut war überhaupt nicht aufgetaucht. Die Nachricht von seiner Rückkehr war eine Lüge gewesen, nur um Klinge zu beschäftigen! Offenbar hatte Königin Amaryllis herausgefunden, dass Klinge wieder nach den Menschen Ausschau hielt und sie deshalb mit dem Wachdienst bestraft. Kein Wunder, dass die beiden Sammlerinnen keine Angst hatten! Sie wussten, dass ihnen keine Gefahr drohte.
Auf einmal passte alles zusammen. Es war zum Verrücktwerden. Bestimmt hielten die anderen sie jetzt für schrecklich naiv. Vielleicht hatten sie sie sogar hinter ihrem Rücken ausgelacht. Klinge schlug sich mit der Faust in die Hand. Das Lachen sollte ihnen vergehen. Sie würde …
Ein gellender Schrei zerriss die Stille. Klinge erschrak. Ihre Wut war vergessen. Ein großer schwarzer Schatten kreiste draußen über der Wiese und stieß zum Gras hinunter. Von dort kam aufgeregtes Rascheln. Ein zweiter Schrei verstummte abrupt.
»Nicht laufen!«, schrie Klinge. »Lasst eure Körbe fallen und fliegt!«
Niemand antwortete. Sie stürzte durch die Hecke, schwangsich mit schwirrenden Flügeln in die Luft und zog ihr Messer. Hätte sie doch lieber Pfeil und Bogen mitgebracht!
Die Krähe hob den Kopf, und Klinge erkannte die Gestalt, die schlaff von ihrem Schnabel herunterhing: Linde. Eine stille Fee, die man aufgrund ihrer Schüchternheit und ihrer graubraunen Kleider leicht übersah – doch konnte sie ihr doppeltes Körpergewicht an Kastanien tragen. Ihr Tod wäre ein herber Verlust für die Sammlerinnen.
Zuerst fürchtete Klinge, es könnte schon zu spät sein, sie zu retten, doch als sie näher flog, erwachte Linde aus ihrer Betäubung und begann zu zappeln. Die Krähe hielt sie mit dem Schnabel fest, hatte sie aber noch nicht getötet. Klinge flog unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft noch schneller, stieg zu der Krähe auf und hieb mit dem Messer auf ihren Schwanz ein.
Ein lächerlicher Angriff, der allerdings den beabsichtigten Zweck erfüllte: Der alte Wermut, um den es sich tatsächlich handelte, kreischte erschrocken und ließ Linde los. Klinge klemmte sich hastig das Messer zwischen die Zähne, ging im Sturzflug nach unten und fing Linde auf, bevor sie auf den Boden prallte.
Behutsam bettete sie Linde ins Gras und sah sich um. Einige Krähenlängen entfernt kauerte Rainfarn, eine andere Sammlerin. Mit einem ungeduldigen Wink bedeutete Klinge ihr, zu kommen und Linde zu helfen. Dann sprang sie aus dem Gras und flog zu ihrem Gegner hinauf.
Seine ganze Aufmerksamkeit galt jetzt ihr, wie sie gehofft hatte. Mit einem trotzigen Schrei flog sie über die Wiese, und der alte Wermut nahm die Verfolgung auf. Klinge wollte ihn möglichst weit von Linde und Rainfarn weglocken. Vorerst war sie allerdings vollauf damit beschäftigt, nicht von ihm erwischt zu werden. Unerbittlich flog Wermut hinter ihr her den Hang hinauf und über die Hecke in die Eichenwelt.
Klinges Flügelmuskeln brannten vor Anstrengung, aber sie wagte es nicht, langsamer zu fliegen. Sie flog in einer so engen Kurve um das Menschenhaus, dass ihr Fuß die Ziegelwand streifte, und dann in wildem Zickzack durch
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