Rebellin unter Feen
misstrauischen Gesichtsausdruck hatte Paul festgehalten. Nicht einmal ihr Spiegelbild in Winkas Spiegel war ihr so ähnlich. Paul hatte nicht nur ihr Äußeres gezeichnet, sondern sie auch in ihrem Wesen erfasst.
»Das ist … wirklich gut«, sagte sie, als sie wieder sprechen konnte.
»Findest du?« Paul drehte den Skizzenblock zu sich und betrachtete das Bild. »Hm«, sagte er langsam und wie verwundert, »ich glaube, du hast recht.«
Plötzlich verließen Klinge die Kräfte. Der Kampf mit Wermut, der Verlust ihres Messers, die Gefangenschaft im Haus und jetzt das – es war zu viel gewesen. »Ich bin müde«, sagte sie und rieb sich die Augen. »Ich muss schlafen.«
»Ach so.« Paul klang enttäuscht. »Ich wollte dich eigentlich noch einmal zeichnen, aber egal.« Er streckte die Hand nach ihr aus.
Klinge sprang zurück und hob die Fäuste. »Rühr mich nicht an!«
»Wieso?«, fragte Paul verdattert. »Ich habe dir letztes Mal doch auch nicht weh getan.«
»Ich meine nicht deswegen«, erwiderte Klinge kurz. »Ich mag es einfach nicht, wenn man mich packt und ungefragt irgendwohin verfrachtet. Du vielleicht?«
Pauls Gesicht hatte sich verdüstert. »Manche haben keine andere Wahl«, sagte er. »Aber wenn es dir lieber ist, bitte.« Er hielt ihr seine Hand mit dem Handteller nach oben hin.
Klinge leckte sich die Lippen und nahm ihren ganzen Mut zusammen. Die Hand war wie ein trockenes Blatt, redete sie sich ein, oder wie der umgedrehte Hut eines Pilzes. Vorsichtig trat siedarauf und Paul senkte sie in die Schachtel hinab, die auf seinem Schoß stand. Klinge sprang herunter und legte sich zitternd hin.
Kratzend schloss sich der Deckel über ihr. »Ich stelle dich wieder in den Kleiderschrank«, sagte die Stimme ihres Entführers. »Dort bist du sicher.« Räder quietschten und ihr Gefängnis landete mit einem Ruck auf einem Regalbrett. Die Schranktür schloss sich, und um Klinge wurde es dunkel.
Ich muss mich jetzt ausruhen, dachte sie. Für die Flucht brauche ich meine ganze Kraft. Wenig später war sie eingeschlafen.
Beim Aufwachen war alles ganz dunkel und still. Sie wusste sofort, dass es Nacht war. Mit steifen Gliedern stand sie auf, trank etwas und aß einige Bissen Brot. Dann setzte sie sich mit gekreuzten Beinen hin, stützte das Kinn in die Hand und überlegte.
Die Schmerzen in ihrem Flügel hatten nachgelassen, doch half ihr das nicht weiter. Ihr Messer war weg, und sie war in einer Schachtel eingesperrt, deren glatte, hohe Wände sie nicht hinaufklettern konnte. Wie sollte sie hier herauskommen?
Da kam ihr ein Gedanke. Klar und deutlich stand er ihr vor Augen wie eine Stimme, die ihren wahren Namen rief: Die Wände ihres Gefängnisses bestanden aus Papier.
Klinge sprang auf, packte die Trinkschale am Rand und kippte sie um. Wasser schwappte heraus und durchtränkte den Teppich unter ihren Füßen. Sie wartete einen Augenblick, bis es in den Boden eingesickert war. Dann ging sie mit schmatzenden Schritten in eine Ecke der Schachtel und begann zu kratzen. Das aufgeweichte Papier löste sich leicht ab, und sie hatte bald ein Loch gepuhlt, durch das sie kriechen konnte.
Sie stieg nach draußen auf das Regalbrett. Vor sich sah sie einen hellen Strich: den Spalt der Schranktür. Vorsichtig ging sie daraufzu und drückte. Nichts geschah. Sie drückte stärker. Die Tür ging auf, und Klinge stürzte nach draußen.
Sie fiel nicht tief, aber der Boden war hart. Sie hielt sich den aufgeschürften Ellbogen, wiegte sich auf den Knien vor und zurück und atmete pfeifend durch die Zähne, bis die Schmerzen nachließen. Als sie den Kopf hob, sah sie als Erstes Pauls fahrbaren Thron. Er stand leer neben dem Bett. Sein stählerner Rahmen glänzte im Mondlicht. Klinge hätte zu gern gewusst, warum ausgerechnet Paul in seiner Familie diese Ehre widerfuhr.
Doch selbst wenn er tagsüber ein König war, im Schlaf sah er ganz gewöhnlich aus: Er hatte die Augen geschlossen, sein Mund war leicht geöffnet. Klinge beobachtete ihn misstrauisch, aber er rührte sich nicht. Auf Zehenspitzen verließ sie das Zimmer.
Sie eilte durch den Gang zum Wohnzimmer, das sie bereits kannte. Auf der Suche nach einem Ausgang untersuchte sie jeden Spalt und jede Ecke, doch vergeblich. Die Türen waren abgesperrt, das einzige Fenster war geschlossen und das in den Boden eingelassene Metallgitter so schwer, dass sie es nicht hochheben konnte. Mit klopfendem Herzen ging sie in die Küche weiter.
Sie überquerte den Fliesenboden
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