Rebellin unter Feen
zusammenhängende Gestalt: den gedrungenen Rumpf und die lauschend aufgestellten Ohren eines Kaninchens.
Nein, unmöglich. Das bildete sie sich nur ein. Sie nahm das Blatt und hielt es ins Licht. Doch wie sie es auch drehte und wendete, die Zeichnung sah wie ein Kaninchen aus. Klinge hatte ohne Zauberei, ohne Übung und ohne jede Anstrengung etwas geschaffen, was seit über hundert Jahren keiner Fee mehr vergönnt gewesen war: Kunst.
So undenkbar und unmöglich es war – das Blatt lag vor ihr, und sie hatte den Stift geführt. Geradezu ehrfürchtig legte sie es zur Seite, nahm ein zweites, beugte sich darüber und kritzelte wie besessen los. Vielleicht spielte ihr die große Gärtnerin einen Streich und die Zeichnung war nur Zufall gewesen!
Als sie sich wieder aufrichtete, starrte der alte Wermut sie mit ausgebreiteten Flügeln und ausgestreckten Krallen wütend an. Die Zeichnung zeigte nicht irgendeine Krähe, sondern genau ihn, sogar das böse Funkeln in seinen Augen. Klinge taten bei seinem Anblick unwillkürlich die Flügel weh.
Sie spürte instinktiv, dass ihr die Zeichnung gut, ja hervorragend gelungen war. Doch konnte ein Teil von ihr immer noch nicht glauben, dass sie tatsächlich eine solche Begabung besaß. Jemand anders sollte darüber urteilen – doch wem konnte sie ein solches Geheimnis anvertrauen?
Sie brauchte nicht lange zu überlegen. Darauf gab es nur eine Antwort: Paul.
Klinge konnte es kaum erwarten, bis es draußen dunkel wurde und sie die Eiche unbemerkt verlassen konnte. Sie rollte das Bild des alten Wermut zusammen und steckte es in ihren Kittel. Dann kletterte sie durch das Fenster und sprang mit dem Kopf voraus in die Nacht.
Sie musste mehrere Male an Pauls Fenster klopfen, bis er ihr aufmachte. »Ich habe etwas gehört«, sagte er, »aber ich habe nicht so bald mit dir gerechnet. Komm schnell rein.«
Klinge schlüpfte unter dem Fenster hindurch und setzte sich auf den inneren Fenstersims. »Du musst dir etwas ansehen. Ich brauche dein Urteil.« Sie zog die Zeichnung heraus und gab sie ihm.
Paul betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. »Sie ist wahnsinnig klein. Moment.« Er rollte zu seinem Schreibtisch, durchsuchte die Schublade und kehrte mit einer großen, runden Linse zurück. Er hielt sie zwischen sich und das Blatt. »Es ist … eine Krähe«, sagte er ein wenig ratlos.
»Und ist sie gut getroffen?« Klinges Herz klopfte wie verrückt.»Ich meine, ist das Bild mehr als ein Gekritzel, das zufällig so aussieht wie eine Krähe?«
»Sie ist sogar sehr gut.« Paul hielt die Linse näher an die Zeichnung. »Was ist das? Kohle? Der Stift muss ja winzig sein …« Er senkte die Linse und sah Klinge verblüfft an. »Hast du das gezeichnet?«
Klinge nickte.
»Ich hatte ja keine Ahnung. Warum hast du mir nicht gesagt, dass du so gut zeichnen kannst?«
»Weil ich es eigentlich gar nicht kann«, erwiderte sie. »Oder wenigstens nicht konnte, bis …« Bis ich dich kennenlernte.
»Sei nicht albern«, sagte Paul ungeduldig. »Das muss man von jemandem lernen oder zumindest sehr viel üben. Einen solchen Blick fürs Detail bekommt man nicht über Nacht.«
»Ich weiß. Deshalb konnte ich zuerst auch gar nicht glauben, dass die Zeichnung etwas taugt. Aber wenn sie wirklich gut ist, dann …«
Dann hatten die Feen aus Heides Zeit von den Menschen, die sie in der Außenwelt kennenlernten, nicht nur schöpferische Ideen, sondern auch schöpferische Fähigkeiten übernommen. Ich habe mir unterwegs einiges Geschick im Zeichnen angeeignet, hatte Jasmin zu Heide gesagt.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Paul.
Klinge zögerte. Wie viel konnte sie ihm anvertrauen? Sie stand auf, sprang vom Fenstersims und landete weich auf dem unteren Ende von Pauls Bett. Sie ging zum Kopfkissen und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen darauf.
»Was hast du vor?«, fragte Paul.
»Ich mache es mir bequem. Hast du etwas zu essen da? Denn die Geschichte, die ich dir erzählen will, dauert eine Weile.«
»Das wusste ich nicht«, sagte Paul langsam, als sie fertig war. »Ich dachte mir zwar, dass etwas schief gegangen sein musste, weil du sagtest, du könntest nicht zaubern, aber das …«
Klinge schluckte den letzten Bissen des Kekses hinunter und wischte sich die Krümel von den Fingern ab. »Nicht wahr? Das ist schlimm.«
Die Verbindung des Eichenvolks mit der Welt der Menschen in der Vergangenheit hatte sie nur beiläufig erwähnt. Diesen Teil des Problems verstand sie selbst noch
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