Rebellin unter Feen
nicht richtig. Aber sie hatte Paul von der großen Spaltung erzählt und wie ihr Volk danach zusehends geschrumpft und seine Kultur verfallen war. Zuletzt berichtete sie, wie es ihrem Volk an schöpferischen Fähigkeiten mangelte und warum sie über ihr zeichnerisches Talent so überrascht gewesen war.
»Und jetzt willst du die Ursache dieser großen Spaltung herausfinden?«, fragte Paul. »Damit du weißt, wie ihr eure Zauberkraft und vielleicht auch eure schöpferischen Kräfte zurückgewinnen könnt?«
»Unter anderem ja«, antwortete Klinge. »Ich habe zwar noch viel mehr Fragen, aber ich glaube, dass sie alle miteinander zusammenhängen.«
Paul trommelte gedankenverloren mit den Fingern auf die Armlehne seines Rollstuhls. »Und eure Königin?«, fragte er schließlich.
»Was soll mit ihr sein?«
»Sie kennt doch bestimmt die Vergangenheit eures Volkes – sie hat sie doch erlebt. Warum erzählt sie euch nicht, was ihr wissen solltet?«
»Das habe ich mich selbst schon gefragt.«
»Unterbrich mich, wenn ich zu weit gehe«, sagte Paul, »aber ist es nicht seltsam, dass sie zur Zeit der großen Spaltung als Einzigenicht in der Eiche war? Hat sie die Spaltung am Ende selbst verursacht?«
»Hm … keine Ahnung«, überlegte Klinge. »Das leuchtet einerseits ein, andererseits auch nicht. Sie könnte dadurch Königin geworden sein, aber was hat sie davon? Wir sind inzwischen nur noch so wenige und besitzen kaum noch etwas.«
»Hm«, brummte Paul.
Klinge sprang auf und wischte sich die letzten Krümel von Haut, Hemd und Hose. »Ich muss gehen, es ist schon spät.« Paul wollte ihr die Zeichnung zurückgeben. »Nein, behalte sie. Ich habe sowieso keine Verwendung dafür. Aber ich bin sehr froh, dass du …«
»Mir ist aufgefallen, dass du nie ›Danke‹ sagst«, fiel Paul ihr ins Wort.
Klinge erstarrte. »Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil das Wort für uns etwas anderes bedeutet als für euch. Wir verwenden es nicht bei jeder Gelegenheit.« Oder eigentlich nie.
Paul musterte sie neugierig. »Was bedeutet es denn bei euch?«
Klinge legte den Kopf in den Nacken und suchte nach Worten. »Es bedeutet, dass derjenige, bei dem man sich … bedankt … einem einen so großen Gefallen getan hat, dass man sich nie auch nur ansatzweise dafür revanchieren kann. Egal wie lange du lebst, du stehst immer in seiner Schuld.«
»Gib mir ein Beispiel. Kennst du jemanden, der …«
»Nicht zu meinen Lebzeiten. Es geschieht sehr selten.«
Paul zog die Augenbrauen hoch. »Kein Wunder, dass du das Wort nicht von mir hören willst. Aber gut. Ich freue mich also, dass du mich heute Abend besucht hast. Besser?«
Klinge nickte. »Viel besser.«
Sie hatte Heides Tagebuch beendet und nichts mehr zu lesen. Ruhelosigkeit überkam sie. Sie konnte dem Drang zu zeichnen nicht widerstehen, und der Stapel von Zeichnungen unter ihrem Bett wurde jede Nacht höher. Doch was für einen Sinn hatte diese Beschäftigung, wenn niemand die Bilder sehen durfte?
Die Fee in ihr warnte sie, dass sie Pauls Großzügigkeit nicht ausnützen durfte, weil sie sonst wieder in seiner Schuld stand. Außerdem redete er seit Neuestem wieder mit seinen Eltern, er brauchte sie also womöglich gar nicht mehr als Gesprächspartnerin. Doch an den folgenden drei Abenden brannte in Pauls Zimmer noch lange Licht, nachdem es im restlichen Haus schon dunkel war, und eine so deutliche Einladung konnte Klinge nicht ablehnen. Bald klopfte sie wieder an sein Fenster.
Bei den ersten Besuchen tat sie noch ganz geschäftig. Sie zeigte ihm ihre neuesten Bilder und fragte ihn um Rat. Doch nach einer Weile ließ sie diesen Vorwand fallen und kam nur noch, um ihn zu sehen. Als die Blätter der Eiche sich herbstlich golden färbten, besuchte sie das Haus jeden Abend.
Sie verstand jetzt wenigstens, warum die Menschen sich so gern unterhielten. Zwar konnte Paul ihre Schwierigkeiten nicht lösen, aber es erleichterte sie, ihm davon zu erzählen. Paul schien von ihren Berichten vom Alltag in der Eiche fasziniert. Manche Personen oder Situationen, an denen Klinge schier verzweifelte, belustigten ihn nur. Bald ging es ihr selbst so, und sie konnte sich bei Malves Schimpftiraden oder Hasenglöckchens seltsamen Angewohnheiten kaum ein Lächeln verkneifen. Sie brauchte nur daran zu denken, wie witzig Paul das finden würde.
Paul wurde unterdessen zunehmend kräftiger und gesünder und interessierte sich wieder mehr für seine Umgebung. Er hatte sogar die Schachtel mit seinen
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