Rebellin unter Feen
wandte sich ab, kehrte langsam zu ihrem Stuhl zurück, ließ sich schwerfällig darauf nieder und faltete die Hände im Schoß. Dann endlich sagte sie vollkommen ausdruckslos: »Dazu ist es jetzt zu spät.«
»Wie zu spät?«, fragte Klinge.
»Du ahnst nicht«, sagte die Königin mit derselben tonlosen Stimme, »was du ihm, dir und uns allen damit angetan hast. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, denn du kannst ja kaum zaubern. Aber du hast dich mit Leib und Seele an diesen Menschenjungen gebunden. Wenn ihr getrennt bleibt, ist euch beiden ein Ende in Elend und Verzweiflung bestimmt.«
»Aber wir können doch nicht …«
»Nein.« Amaryllis nickte dumpf. »Ihr könnt nicht zusammen sein. Du hast in deiner Torheit ihn und dich ins Verderben getrieben. Kraftlos und flugunfähig wirst du hier in der Eiche dahinsiechen, während er dieselben Qualen erleiden muss wie vor ihmAlfred Wrenfield und Philip Waverley – erfüllt von einer hoffnungslosen Sehnsucht, die nur der Tod beenden kann.«
Klinge begann zu zittern und musste sich an die Wand lehnen. »Das wusste ich nicht«, flüsterte sie. »Ich wollte doch nicht …«
»Nein«, sagte die Königin. »Deshalb bin ich auch bereit, Gnade walten zu lassen – unter einer Bedingung. Trotz deines Draufgängertums und Ungehorsams bist du die größte Jägerin, die es in der Eiche je gegeben hat. Und nur mit dir, so fürchte ich, haben wir eine Chance, andere Feen zu finden, bevor es zu spät ist. Wenn du also meine Bedingung erfüllst und tust, was ich verlange, gebe ich dir die Zauberkraft zurück, die du verloren hast. Dann kannst du wieder fliegen.«
Klinge starrte die Königin ungläubig an, und Amaryllis erwiderte ihren Blick unbewegt. »Und die Bedingung wäre?«, fragte Klinge.
»Du wirst bei Einbruch der Nacht die Eiche verlassen. Ich werde dir das tödlichste Gift mitgeben, das ich habe. Du wirst zu diesem Paul zurückkehren … und du wirst ihn töten.«
EINUNDZWANZIG
»Nein!«
Klinge drückte sich von der Wand ab und eilte zur Tür. Sie musste Paul finden und warnen – doch die Tür war verschwunden. Dasselbe galt für die Fenster. Sie konnte das Zimmer nicht mehr verlassen.
Das ist bestimmt nur eine Sinnestäuschung, dachte sie in Panik, ein Zauber. Sie drückte mit der ausgestreckten Hand an die Stelle, an der die Tür gewesen war, spürte aber nur hartes Eichenholz. Sie hämmerte dagegen und rief um Hilfe. Doch niemand antwortete ihr.
»Selbst wenn ich dich gehen lassen würde, du könntest ihn nicht retten«, sagte die Königin. »Du hast nur eine einzige Wahl … Aber zuerst will ich dir noch etwas zeigen.« Sie machte eine Handbewegung, und die Tür sprang auf. »Komm«, sagte sie. »Und Klinge, ich an deiner Stelle würde das Messer stecken lassen.«
Stöhnend zog Klinge die Finger vom Griff ihres Messers zurück. Ihre Hand schmerzte, als habe sie in eine Distel gefasst. Wehrlos folgte sie Amaryllis durch den Gang und in das Arbeitszimmer der Königin. Die Wände waren mit schwarzen Bücherregalen bedeckt, auf dem Schreibtisch häuften sich Pergamente.
»Ich weiß, dass du über den Verlust der Bücher über die Menschen sehr traurig warst«, sagte die Königin. »Pechnelke erging es ähnlich. Hätte ich gewusst, wie sehr sie leiden würde, hätte ich sieins Vertrauen gezogen. Sie kann ich nicht mehr trösten, aber für dich ist es noch nicht zu spät.« Sie zeigte mit einer Armbewegung auf die Regale. »Sage mir, was du in diesen Regalen siehst, Klinge.«
Widerwillig hob Klinge den Kopf – und wollte ihren Augen nicht trauen. Vor ihr standen Lorbeeres Menschliche Gebräuche und Sitten mit dem geknickten Rücken, Wacholders zwei Bände Über das Wesen des Menschen und all die anderen Bücher über die Menschen, die sie für immer verloren geglaubt hatte. »Wie ist das möglich?«, fragte sie. »Pechnelke sagte doch, sie seien verbrannt.«
»Der Schein trügt zuweilen«, sagte Amaryllis. »Ich habe angeordnet, das Regal in der Bibliothek auszuräumen, das stimmt. Zugleich befahl ich Malve, in der Küche Feuer zu machen und zu verbrennen, was ich ihr schickte. Doch die Bücher, die Pechnelke brennen sah, waren nur Schein, keine echten Bücher. Die hatte Hasenglöckchen auf meinen Befehl schon eingesammelt und hierher gebracht.« Amaryllis strich wie liebkosend mit den Fingern über die Buchrücken. »Ich konnte mich nicht überwinden, sie zu verbrennen, obwohl ich jede Hoffnung aufgegeben hatte, dass man sie noch einmal
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