Rebellin unter Feen
achtzig Jahre unter ihnen gelebt habe …«
»Achtzig Jahre?«, rief Klinge erstaunt.
»Zu ›Forschungszwecken‹, wie diese Arbeit in unseren Geschichtsbüchern genannt wird.« Amaryllis schürzte verächtlich die Lippen. »Forscherinnen wie ich, die sich mit den Menschen beschäftigten, wurden damals gern übersehen. Unsere Arbeit galt als selbstverständlich. Doch ohne die Informationen, mit denen wir die Eiche versorgten, hätten Feen wie Heide sich nicht auf ihren Aufenthalt draußen vorbereiten können. Sie hätten begabte Menschen wie Alfred Wrenfield oder Philip Waverley gar nicht kennengelernt, von einer Partnerschaft mit ihnen ganz zu schweigen.«
Klinge sah die Königin verwirrt an, und Amaryllis lächelte freudlos. »Du bist überrascht. Meinst du denn, alle Feen, die nach draußen gingen, hätten nach menschlichen Partnern gesucht? Du glaubst es wahrscheinlich, weil es bei Heide und Jasmin so war, aber in Wirklichkeit waren solche Verbindungen die Ausnahme.Wir übrigen machten zwar die Bekanntschaft von Männern und Frauen, freundeten uns aber selten mit ihnen an. So konnten wir mehr Menschen erreichen und ihre schöpferische Kraft fördern, auch wenn wir sie nicht zu Höchstleistungen anspornen konnten.«
»Aber … wir konnten uns vor der Verwandlung durch Jasmin nicht durch Eier vermehren«, sagte Klinge langsam. »Wenn also nur wenige Feen Menschen heirateten und nur ihre Töchter zur Eiche zurückkehrten, hätten wir dann nicht längst vor der Spaltung aussterben müssen?«
»Wir konnten bei Bedarf auf andere Weise zu Kindern kommen«, sagte Amaryllis. »Die Geschichten von geraubten Kindern sind nicht alle erfunden. Allerdings nahmen wir den Menschen keine Kinder weg, die von ihren Eltern geliebt wurden, sondern nur verwaiste, misshandelte oder vernachlässigte Kinder. Jasmin war selber so ein Kind, auch wenn sie es nie zugegeben hätte.«
»Also gut«, sagte Klinge. »Aber etwas anderes verstehe ich nicht. Wenn Jasmin alle Feen der Eiche verzaubert hat, warum seid Ihr davon verschont geblieben?«
»Ich bin Jasmins Vorladung nicht gefolgt«, antwortete die Königin. »Ich hatte damals viel zu tun, und es erschien mir nicht sinnvoll, so kurzfristig zur Eiche zurückzukehren. Außerdem erfuhr ich nur aus zweiter Hand davon, ich musste also annehmen, dass Jasmin mich vergessen hatte. Wie bereits gesagt, Forscherinnen wie ich wurden oft übersehen.«
»Aber Ihr seid schließlich doch zurückgekehrt«, sagte Klinge. »Warum?«
»In der Nacht, in der Jasmin die Feen verzauberte, hörte ich im Traum Feenstimmen um Hilfe rufen. Da wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Ich legte meine menschliche Gestalt ab und kehrte zur Eiche zurück, doch ich kam zu spät. Ich konnte nicht mehrrückgängig machen, was Jasmin angerichtet hatte. Nicht einmal Heide konnte ich retten.« Die Königin klang bitter. »Jasmin hatte sie und zwei weitere Feen, die fliehen wollten, bereits erwischt und des Verrats angeklagt. Ob sie über ihren Ungehorsam wütend war oder darüber, dass sie die drei nicht ihrem Willen hatte unterwerfen können, weiß ich nicht. Jedenfalls ließ sie die Verräter sofort hinrichten. Als ich in der Eiche eintraf, waren von ihnen nur noch die Eier übrig.« Amaryllis verzog angewidert das Gesicht. »Bei der Gärtnerin! Wie ich die Eier verabscheute, als ich sie sah.«
»Habt Ihr Jasmin daraufhin zur Rede gestellt?«, fragte Klinge.
»Das habe ich, obwohl ich fürchten musste, dass ich keine Chance gegen sie haben und unterliegen würde. Jasmin war mir beim Zaubern immer überlegen gewesen. Doch die Spaltung hatte sie geschwächt, und so konnte ich sie besiegen. Ich beraubte sie ihrer letzten Zauberkraft und bestrafte sie, wie sie es verdient hatte.« Amaryllis lächelte schmallippig. »Ich verwandelte sie in einen Menschen und verbannte sie für immer aus der Eiche.«
Klinge starrte die Königin erschrocken an.
»Doch den Schatten, den sie über die Eiche geworfen hatte, konnte ich nicht vertreiben. Ich konnte die Feen nicht von ihrer Angst vor den Menschen abbringen, und als ich merkte, wie schwach und verletzlich sie geworden waren, begriff ich, dass ich es auch nicht weiter versuchen durfte. Es war zu gefährlich. Dann schlüpften die ersten Eier, und ich musste zu meinem Kummer feststellen, dass die neuen Feen überhaupt nicht mehr zaubern konnten. Also musste ich dafür sorgen, dass sie wenigstens Eier erzeugen konnten. Nur so konnte ich das Aussterben unseres Volkes
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