Rebellin unter Feen
brauchen würde.«
»Und ich soll trotzdem Paul McCormick töten?«, fragte Klinge bitter. »Wie können Bücher über Menschen mehr wert sein als ein Menschenleben?«
»Du vergisst, dass er bereits dem Tod geweiht ist. Genau genommen war er das schon als Kind. Dein Anblick hat in ihm einen ruhelosen schöpferischen Drang geweckt – doch dann bist du aus seinem Leben verschwunden, und dein Werk mit ihm blieb unvollendet.« Amaryllis ging beim Sprechen langsam um Klinge herum. »Er wäre zwar nie mehr richtig glücklich geworden, hätte aber weiterleben können, wenn du ihn nicht wieder aufgesucht hättest. Du hast den Funken zwischen euch mit deiner Freundschaftund schließlich einem Kuss neu entfacht. Jetzt ist daraus ein Feuer geworden, das euch beide verzehren wird … wenn du nicht tust, was ich dir befehle, und es löschst.«
Klinge wandte sich bekümmert ab. Die Königin lügt, redete sie sich ein, sie irrt sich, sie hat Unrecht … Doch musste sie immer wieder an Pauls Worte kurz vor ihrem Abschied denken: Ich habe dir das mit Alfred Wrenfield aus einem ganz bestimmten Grund erzählt. Jane war seine Muse, und du bist dasselbe für mich.
Wrenfield hatte sich mit Drogen zugrunde gerichtet, nachdem Jasmin ihn verlassen hatte. Philip Waverley war ebenfalls jung gestorben, und seine dichterische Begabung war unvollendet geblieben. Hatte sie Paul vor dem Ertrinken gerettet, nur um ihn jetzt auf noch schlimmere Art zu töten?
»Du hast mit deinem Tun ein Band zwischen euch geschmiedet«, fuhr die Königin leise, aber unbarmherzig fort, »ein Band, das nur deine Hand durchtrennen kann. Wenn du dich weigerst, wirst auch du dahinsiechen und sterben wie die Opfer der Schweigekrankheit. Die Krähen werden zur Eichenwelt zurückkehren, und wir werden alle unter ihnen zu leiden haben. Denn Dorna ist nicht so stark, so schnell oder so mutig wie du. Niemand wird mehr nach anderen Feen suchen und zuletzt werden wir alle zugrunde gehen …«
»Aufhören!« Klinge hielt sich die Ohren zu. Eine Träne lief ihr über die Wange. »Genug«, flüsterte sie.
Amaryllis schwieg und sah sie nur unverwandt an. Klinge schluckte. Sie spürte einen schmerzhaften Kloß im Hals. »Ihr sagtet … Ihr würdet mir etwas geben, mit dem …«
Die Königin nickte. »Ich besitze ein Gift, das vor langer Zeit durch Zauberei hergestellt wurde. Ein einziger Tropfen in seinem Essen oder Trinken genügt, und er wird einschlafen und nicht mehr aufwachen. Er wird keine Schmerzen spüren, nichts ahnenund nicht merken, dass sein Herz aufgehört hat zu schlagen. Seine Eltern werden glauben, er sei eines natürlichen Todes gestorben. Für ihn selbst wird es eine Erlösung sein.«
»Ihr schwört es?« Die Stimme drohte Klinge zu versagen. »Schwört!«
»Ich schwöre.«
»Und danach … wenn ich zurückkomme …«
»Bist du frei.« Amaryllis legte ihr die Hand auf die Schulter. »Natürlich wirst du um ihn trauern, aber deine Trauer wird wie alle Sorgen vergehen. Ich werde deine Flügel wiederherstellen, und du wirst mir und deinen Schwestern wie früher als Jägerin dienen.« Sie drückte Klinge tröstend die Schulter. »Ich weiß, dass sich alles in dir gegen diese Tat sträubt. Aber ich versichere dir, Klinge, sie ist die einzige Lösung.«
Klinge senkte den Kopf. »Also gut«, sagte sie kaum hörbar.
Am Himmel zog bereits tiefblau die Dämmerung herauf. Einige faserige Wölkchen trieben darüber hinweg, und am Horizont bezeichnete ein roter Fleck die Stelle, an der die Sonne verschwunden war. Aus den Tiefen des Waldes ertönte der Ruf einer Eule, doch er blieb ohne Antwort.
Klinge schlüpfte aus dem Fenster, ging bis zum Ende des Asts und starrte blicklos über die Eichenwelt. Dann breitete sie die Flügel aus und stieß sich ab. In drei langen Gleitzügen überquerte sie den Rasen. Zitternd vor Anstrengung landete sie an der Rückseite des Hauses. Sie verschnaufte kurz, flatterte zum Küchenfenster hinauf, duckte sich auf den Sims und wartete.
Zäh verstrichen die Minuten. Endlich ging das Licht an, und Beatrice McCormick kam herein. Sie holte die vertrauten Porzellantassen aus dem Küchenschrank und stellte sie klappernd auf die Unterteller. Als Nächstes kam das Milchkännchen an dieReihe. Es neigte sich dreimal über die Tassen und verschwand wieder in den Tiefen des Kühlschranks. Den Abschluss des Rituals bildete die Zuckerdose. Klinge drückte das Gesicht an die Scheibe. Ihre Sinne waren gespannt wie die eines jagenden Raubtiers.
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