Rebellin unter Feen
verblichene blaue Bluse und einen ebensolchen Rock, beides aus Bequemlichkeit und nicht des Aussehens wegen. Das einzige Zeichen ihres Amtes war ein dünnes Diadem auf ihrer Stirn.
»Was ist, Hasenglöckchen?«, fragte sie und hob den Kopf wie ein Fuchs, der Witterung aufnimmt. Dann erstarrte sie, als habe sie ihr Versehen bereits bemerkt.
»Majestät«, sagte Klinge, »wir müssen miteinander reden.«
ZWANZIG
»Du bist schon zurückgekehrt?«, fragte Königin Amaryllis und drehte sich um. Ihr Blick fiel auf Klinges verbundenen Knöchel. »Du bist verletzt!«
Sie klang besorgt, und Klinge spürte ganz unerwartet Gewissensbisse. »Es ist nichts Schlimmes«, sagte sie. »In ein paar Tagen ist es verheilt. Ich komme wegen etwas anderem.«
Amaryllis zog die Augenbrauen hoch. »Dann sprich.«
Klinge straffte sich und nahm all ihren Mut zusammen. »Ich habe nicht nach anderen Feen gesucht.«
»Dann hast du mich angelogen.« Die Miene der Königin verfinsterte sich. »Warum?«
Klinge berichtete rasch von Heides Tagebüchern und was sie von ihnen erfahren hatte. Sie vermied es sorgfältig, Winkas und Dornas Namen zu nennen. Stattdessen klang sie so, als habe sie alles allein herausgefunden.
»Aufgrund von Heides Geschichte konnte ich mir auch die von Jasmin zusammenreimen«, fuhr sie fort. »Auch sie hatte sich in einen Menschen verliebt, einen Künstler namens Alfred Wrenfield. Doch eines Tages wurde Wrenfield wütend und schlug sie. Damit hatte er ihr Vertrauen missbraucht und das Band zwischen ihnen zerstört. Sie verließ ihn und kehrte zur Eiche zurück. Ihre Enttäuschung und Bitterkeit wurden immer stärker, bis sie überzeugt war, dass alle Menschen so brutal und unwürdig wie ihr Liebhaberseien. Sie wollte die anderen Feen dazu überreden, nicht mehr nach draußen zu gehen. Die Feen sollten sich mit den Fähigkeiten und Kenntnissen begnügen, die sie bereits hatten. Doch niemand hörte auf Jasmin. Deshalb beschloss sie zuletzt, die Eichenfeen gewaltsam von der Abhängigkeit von den Menschen zu befreien.
Sie ermordete Schneeglöckchen und folgte ihr als Königin nach. Anschließend beorderte sie alle Feen zurück, die außerhalb der Eiche beschäftigt waren. Die Feen gehorchten willig. Heides Kind wurde geboren, und nun brauchte Jasmin zur Ausführung ihres Plans nur noch auf den nächsten Vollmond zu warten.
In jener Nacht trat sie aus der Eiche ins Freie und bewirkte unter Einsatz Schwarzer Magie einen schrecklichen Zauber. Sie benutzte dazu die Zauberkraft sämtlicher anderer Eichenfeen und wendete sie gegen sie. Zuerst verwandelte sie ihre Körper, so dass sie sich durch Eier vermehren konnten und keine menschlichen Gefährten mehr brauchten. Dann verwirrte sie ihr Gedächtnis, denn sie sollten sich nicht mehr an die Außenwelt erinnern können. Und schließlich pflanzte sie ihnen die Angst vor den Menschen ein. Die Feen sollten nie mehr versucht sein, sich einem Menschen zu nähern. Die Spaltung verbrauchte fast die ganze Kraft des Eichenvolks, doch Jasmin hielt diesen Aufwand für gerechtfertigt, denn ihr Volk würde für immer vom Einfluss der Menschen befreit sein.
Seitdem sind Jasmin und fast alle Feen, die sie verwandelt hat, verschwunden oder gestorben. Die Eichenfeen der neuen Generation sind nicht mehr verwirrt wie ihre Vorfahren und haben auch nicht mehr so viel Angst. Aber der Glaube, die Menschen seien Ungeheuer, hält sich hartnäckig – und dieser Glaube tötet uns, wie ich jetzt weiß.«
Amaryllis hatte Klinges Bericht mit gesenktem Blick und unbewegter Miene angehört. Jetzt hob sie ruckartig den Kopf.
»Er tötet uns, meinst du?«, fragte sie schneidend. »Der Glaube, dass die Menschen für uns eine Bedrohung darstellen? Was sollten sie denn sonst sein? Sie sind groß und stark, und wir haben unsere Zauberkraft fast vollständig verloren und können uns kaum noch verteidigen. Und was ist mit den anderen Gefahren, die uns schon so viele Leben gekostet haben – den Krähen, Füchsen und Stromleitungen? Und die Schweigekrankheit, die für fast alle Todesfälle seit der großen Spaltung verantwortlich ist?«
Die Königin stand auf. Ihr Gesicht war zu einer Maske aus Stein erstarrt. »Sieh dich vor, Klinge. Du magst stolz darauf sein, die Wahrheit herausgefunden zu haben – denn zugegeben, es ist die Wahrheit, ich bestreite es nicht. Aber wenn du meinst, dass du nach ein paar Büchern und am Fenster verbrachten Nächten schon mehr über die Menschen weißt als ich, die ich
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