Rebellion Der Engel
wie sich die Stümpfe veränderten, die unter dem zerrissenen Hemd herausragten. Kyriels Leib erzitterte, als aus den vernarbten Stümpfen ein neues Paar Flügel wuchs. Anfangs kaum mehr als ein paar einzelne Federn, breiteten sie sich immerweiter über seinen Rücken aus, bis ihn das schwarze Gefieder wie ein Mantel umhüllte. Kyriel sah auf, die Züge von grenzenloser Freude erfüllt. Er spreizte die Schwingen, als wolle er sichergehen, dass sie real waren. Da erst bemerkte ich, dass sie nicht gänzlich schwarz, sondern von einzelnen silbergrauen Federn durchzogen waren.
»Du hast heute bewiesen, dass noch immer Gutes in dir steckt«, sagte Uriel. »Das soll dir vergolten werden. Erhebe dich nun als Kyriel Schutzengel.«
Kyriel fuhr ruckartig auf. »Was?! Das kannst du nicht machen! Du kannst mich doch nicht auf der Erde lassen!«
Doch Uriel hörte ihn nicht mehr. Er war fort.
»Warte! Uriel! Ich bin doch kein verfluchter Schutzengel!« Seine weiteren Worte verhallten ungehört, als auch er verschwand. Einen Herzschlag später war er wieder da, tauchte so plötzlich vor Akashiel und mir aus dem Nichts auf, dass ich zusammenfuhr. »Jemand sollte einen Blick in den Keller des Pfarrhauses werfen«, meinte er. »Reverend Daniels’ Eimerchen ist sicher voll. – Erzengel! Warte!«
Fort war er.
»Ich könnte wetten, dass wir den nicht zum letzten Mal gesehen haben«, brummte Akashiel.
Vielleicht bekam ich dann Gelegenheit dazu, mich bei ihm zu bedanken, denn ganz gleich, was er sonst getan haben mochte, er hatte mir auch mehr als ein Mal das Leben gerettet – und das letzte Mal, obwohl ich ihm zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr von Nutzen war. Nicht zuletzt hatte er auch Akashiel geholfen. Er hätte nichts davon tun müssen und trotzdem …
Ich drehte mich wieder zu Akashiel herum. »Was machen wir jetzt?«
»Ich bin noch unentschlossen, ob ich dich festhalten und nie mehr loslassen oder dir den Hintern versohlen soll.«
»Vielleicht könntest du an einem anderen Ort darüber nachdenken?« Nachdem die Anspannung allmählich von mir abfiel und das Adrenalin auf einen annähernd normalen Level gesunken war, spürte ich die Kälte mit jedem verstreichenden Augenblick ein wenig mehr. Ich war erschöpft und sehnte mich nach einem heißen Bad und einem weichen Bett – ganz gleich, in welcher Reihenfolge. Wenn dazwischen irgendwo eine heiße Schokolade Platz fände, würde ich mich nicht darüber beklagen.
»Junge?« Die Stimme in meinem Rücken ließ mich erstarren. Es war Japhael – der Engel, der den Befehl gegeben hatte, mich zu töten. Auch wenn Uriel mir versichert hatte, dass ich nicht länger in Gefahr war, bereitete mir seine Nähe weiterhin Unbehagen.
Akashiel schlang die Arme fester um mich und hüllte mich in den schützenden Mantel seiner Schwingen. »Was willst du?« Niemals zuvor hatte ich ihn so kalt und abweisend erlebt.
»Ich habe mich geirrt«, gab Japhael an mich gewandt zu. »Dafür bitte ich um Vergebung.«
Da ich nicht wusste, was ich zu jemandem sagen sollte, der vor nicht einmal einer Stunde den Befehl gegeben hatte, mich umzubringen, nickte ich nur.
Dann sah er Akashiel an. »Können wir reden?«
»Nicht heute.«
Japhael nickte. »Melde dich, wenn du dazu bereit bist.«
»Das werde ich.«
Die Höhle verschwand vor meinen Augen, die Welt löste sich auf, und als sie sich erneut zusammensetzte, standen wir – noch immer eng umschlungen – vor dem Panoramafenster in Akashiels Wohnzimmer. Vor unseren Augen erstreckte sich das nächtliche Seattle, ein Anblick, dessen Vertrautheit mir ein Gefühl der Sicherheit vermittelte.
»Ich habe mich entschieden.« Akashiel sah mich so ernst an, dass mir ganz anders wurde. Sein Auftrag war beendet, ich war nicht länger in Gefahr. Er konnte die Akte »Rachel Underwood« schließen und sich anderen Aufgaben zu wenden. Aufgaben, bei denen ich keine Rolle spielte.
»Entschieden?«, echote ich.
»Ich werde dir den Hintern später versohlen.« Der Anflug eines Lächelns stahl sich in seine Züge und ließ seine Augen leuchten. »Für den Moment bin ich zu erleichtert, dich sicher und unversehrt wiederzuhaben.«
Mein Herz setzte vor Erleichterung einen Schlag aus. Ehe ich etwas sagen konnte, beugte er sich zu mir herab und küsste mich. Es war ein sanfter Kuss, voller Zärtlichkeit. Ich schmiegte mich in seine Arme, erwiderte die Liebkosungen seines Mundes und strich mit den Fingern über seine Wange. Seine Lippen waren warm und weich und
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