Rebellische Herzen
das lange Futteral von Charlottes geliebtem Rechenschieber aus der geöffneten Tasche.
»Bring es her, dann zeige ich es dir.«
Leila stakste mit ausgestreckten Armen wie ein Storch durch Charlottes Zimmer.
Charlotte nahm das abgegriffene Lederetui entgegen. »Weißt du, wie man addiert und subtrahiert?«
»Ja, Madam. Wie man multipliziert und dividiert auch.« Robbies Akzent war stärker als der seines Vaters, aber er sprach ein einwandfreies, flüssiges Englisch.
Charlotte zog die Augenbrauen hoch. »Sehr gut. Ich wusste nicht, wie viel Unterricht du bekommen hast. Wer hat dir das beigebracht?«
»Mein Vater. Papa ist … war der Handelsbeauftragte in unserem Stamm. Er sagt, man müsse in allen Fragen des Handels gut unterrichtet sein, um sich Respekt zu verschaffen.«
Charlotte senkte den Blick und bediente den Rechenschieber. »Dein Vater ist ein kluger Mann.« Sie verschob die beweglichen Teile aus gewachstem, gekerbtem Holz. »Es wird dich sicher freuen zu hören, dass du, wenn du den Rechenschieber erst beherrschst, ohne Papier und Bleistift rechnen kannst.«
Robbie runzelte die Stirn. »Oh, Papier und Bleistift benutze ich nie. Ich mache es im Kopf, wie Papa.«
Charlotte starrte. »Große Zahlen? Wie … Sechshundertundzweiunddreißig mal Viertausendvierhundertundachtzehn?«
»Zwei Millionen, Siebenhundertzweiundneunzigtausend und einhundert sechsundzwanzig«, antwortete Robbie prompt.
»Nein, das kannst du nicht im Kopf ausrechnen. Siehst du, die Antwort ist …«
Hastig rechnete Charlotte mit dem Rechenschieber nach. »Zwei Millionen, Siebenhundertzweiundneunzigtausend und einhundert sechsundzwanzig.« Sie sah den Jungen an. »Wie hast du das gemacht?«
»Das hat mir Papa beigebracht.«
»Dein Vater hat dir das beigebracht?« Charlotte fragte sich erstaunt, ob der Mangel an gesellschaftlichem Feinschliff vielleicht Lord Ruskins angeborene Intelligenz geschärft hatte. »Was für eine außergewöhnliche Begabung ihr beiden gemein habt!«
Sie wollte ihn weiter befragen, aber Leila torkelte gegen den Waschtisch, und der Porzellankrug und die Waschschüssel fielen auf den Holzboden. Die Schüssel ging entzwei und aus dem Krug schwappte das Wasser heraus. Leila jammerte.
»Das war dämlich«, sagte ihr lieber Bruder. Charlotte stand ruhig auf und ging zu Leila, die am Boden saß und sich das Schienbein hielt.
»Bist du nass?« Sie zog die Brille von Leilas Nase und steckte sie ein.
»Ja, und ich habe mir wehgetan.«
»Nicht so schlimm. Hier ist ein Handtuch; lass uns das Wasser aufwischen. Kannst du multiplizieren wie dein Bruder?«
»Nein.« Leila nahm widerwillig das Handtuch und wischte das Wasser auf. »Mehr als Hundert mal Tausend kann ich nicht.«
»Ich bin beeindruckt.« Charlotte kniete sich neben das Mädchen und half ihr. »Hat dir dein Vater auch das Lesen beigebracht?«
»Ja, ich kann lesen«, sagte Robbie.
»Kannst du nicht.« Auch Leilas Akzent war ausgeprägter als der Wynters, aber ihre helle, klare Stimme konnte noch geformt werden. »Du erkennst bloß ab und zu ein Wort.«
»Ich kann's besser als du.«
»Ich kann's; ich will nur nicht.«
Charlotte rückte den Waschtisch zurecht und sammelte die Scherben auf.
»Natürlich willst du nur nicht. Aber ich kann es ganz gut und ich habe ein Buch dabei, das dir vielleicht gefällt.«
»Nicht, wenn ich es lesen muss«, trotzte Leila.
»Nein, ich werde vorlesen«, gab Charlotte nach und stellte skrupellos ihre Falle.
Sie erhob sich und ging zu ihrer Tasche. Der Inhalt war größtenteils über den Boden verstreut. Kleider für den Fall, dass die Dienstboten es nicht schafften, ihre Truhen heraufzubringen. Denn Dienstboten versäumten es – solange man sie noch nicht richtig erzogen hatte – gerne, einer Gouvernante zu helfen. Eine Schiefertafel, der mobile Sekretär mit Papier und Federn und einige sehr sorgfältig ausgewählte Bücher. Sie suchte ein in grünes Leder gebundenes aus und sah sich um in dem großen, sonnigen Zimmer, das nach Osten ging.
Der beste Platz für sie drei war die Fensterbank. Das Fenster öffnete sich zu einem Blumengarten hinaus und die Sitzpolster prangten in dem gleichen luxuriösen, gemusterten Stoff wie die Tagesdecke auf dem Bett und die Gardinen. Die Kissen glänzten jedes in einer anderen Juwelengleichen Farbe und nahmen das Webmuster auf.
»Kommt, Kinder.« Charlotte führte sie an die Fensterbank und setzte sich in die Mitte, sodass Robbie und Leila sich an der Seite ankuscheln konnten.
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