Rebellische Herzen
23
Liebe Pamela, liebe Hannah, ich weiß nicht, wie ich euch das Folgende mit Würde oder Anstand beibringen könnte. Auf Grund von Vorkommnissen, die sich am heutigen Tage zugetragen haben, die aber – wie ich euch versichern möchte – von höchster Unschuld waren, sehe ich Mich gezwungen, zu heiraten. Bei meinem Verlobten handelt es sich um Lord Ruskin, der in vielerlei Hinsicht ein schätzenswerter Mann ist, mich allerdings derart zur Verzweiflung bringt, dass ich keine Chance auf Liebe sehe. Die Eile, mit der alles betrieben wird, ist nachgerade obszön, denn die Hochzeit wird, unmittelbar nachdem die Aufgebotsfrist abgelaufen ist, am Montagmorgen stattfinden, was hätte vermieden werden können, wenn uns nicht bereits einen Monat später der Königliche Empfang ins Hause stünde!
Wie ihr euch sicher vorstellen könnt, vermisse ich euch aufs Schmerzhafteste, meine lieben Freundinnen. Nicht nur aus den Gründen, die ihr nunmehr kennt, sondern auch deshalb, weil ich eine höchst lächerliche Forderung an Lord Ruskin gestellt habe und befürchten muss, dass er ihr nachkommt, koste es, was es wolle …
Charlotte hatte sich nie zuvor große Gedanken gemacht, wenn sie die lange, schattige Ahnengalerie mit den Gemälden lang verstorbener, förmlich dreinblickender Lords und Ladies durchquerte. Doch heute Nacht, kaum vierundzwanzig Stunden nach der verhängnisvollen Szene im Treppenhaus, machten die Bilder sie nervös.
Wenigstens sich selbst gestand sie es ein. Es war
Wynter,
der sie so nervös machte, so unbarmherzig wie sein Porträt sie anblickte. Sie hatte das Bildnis des jungen Lord Ruskin mit seinem Spaniel bis jetzt kaum beachtet. Doch als sie nun von Adornas Gemächern zu ihrem eigenen Schlafzimmer ging, ließ das Gemälde sie nicht mehr los.
Wynter war heute Morgen nach London aufgebrochen, doch er verfolgte sie immer noch.
Sie hatte sich nie gefragt, was sich wohl hinter den geschlossenen Wandtüren der Galerie verbarg. Doch heute erschien es ihr, als lauere ihr dort etwas auf. Und tatsächlich stand eine der Türen offen …
Sie ging langsam auf die Tür zu. Das flackernde Kerzenlicht der Galerie reichte nicht aus, den Raum hinter der Tür zu erleuchten. Er lag in völliger Dunkelheit und sie konnte auch mit größter Anstrengung nichts erkennen. Sie mochte keine allzu phantasievolle Frau sein, aber sie konnte sich doch Dutzende Gründe vorstellen, weshalb die Tür mit einem Mal offen stand. Die Dienstmädchen hatten vermutlich sauber gemacht. Oder die Kinder hatten Verstecken gespielt. Oder …
»Lady Miss Charlotte.«
Sie stieß einen spitzen Schrei aus.
Wynters Stimme, aus dem Dunkel vor ihrer Nasenspitze, erschreckte sie über alle Maßen. Sie griff sich an die Brust. »Was tun Sie da? Hier? Und wieso Jetzt?«
Er kam, geschmeidig wie die Schlange aus dem Garten Eden, auf sie zu. Charlotte plapperte weiter. »Ich glaubte, Sie seien in London?«
»War ich auch.« Er nahm sie am Handgelenk. »Dachten Sie, ich würde Sie länger als einen Tag alleine lassen?«
Sie hatte es
gehofft.
Genau genommen war sie auf seine Abwesenheit angewiesen, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Aber dazu war er ganz offensichtlich nicht lange genug außer Haus gewesen – und ihr kam langsam der Verdacht, dass Zeit dabei ohnehin keine Rolle spielte. Sie würde ihr Gleichgewicht vielleicht nie mehr zurückgewinnen.
Welch furchtbarer Gedanke! So außer Kontrolle zu geraten!
Er zog sie heran. Ein dunkles Wesen, das vor Begierde pulsierte.
Sie musste jetzt schnell drauflosreden. »Mylord, es schickt sich nicht, vor der Hochzeit miteinander allein zu sein.«
»Oder auch danach, wenn es nach
Ihnen
ginge.« Er schien belustigt, doch sie konnte im schwachen Kerzenschein kein Lächeln erkennen. »Oder haben Sie das vergessen?«
»Nein.«
»Oder vielleicht Ihre Meinung geändert? Wollen Sie mich nicht doch in Ihr Bett bitten?«
Dieses Spiel war nicht zu gewinnen. Sie wusste es. Er zog sie weiter heran, als genüge allein seine Nähe, ihren Widerstand zu brechen. Sie legte den Kopf zurück und sah ihm ins Gesicht. Er war nicht nur deutlich größer als sie, sondern auch ungleich stärker. Der Unterschied war enorm. Und noch schwerer wogen die englischen Gesetze. Sobald sie seine Frau war, würde Wynter über ihren Körper verfügen dürfen, wie es ihm beliebte. Er durfte sie verprügeln oder einsperren. Sie wusste, dass er das nicht würde. Aber er würde seine ehelichen Rechte durchsetzen. Und die Männer, die die
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